Was wäre, wenn es in unserem Leben einen Menschen gebe, der uns sieht, wenn wir uns unsichtbar fühlen? Der uns Kompetenzen unterstellt, wenn wir sie nicht erkennen können? Der zum Sinn im Leben ermutigt, wenn wir zweifeln? Der uns die Hand reicht, gerade dann, wenn wir dabei sind, vom Kurs abzukommen? …
… Und was wäre, wenn Sie diese Person für jemand anderes sein könnten?
„Nehmen wir ihn (den Menschen) einfach so, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter; nehmen wir ihn hingegen so, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann. Das hat mir allerdings nicht mein kalifornischer Fluglehrer gesagt, sondern das ist ein Wort von Goethe.“ – Viktor E. Frankl 1985
Auszug Übersetzung:
- In Europa und Amerika wollen die Studenten viel Geld verdienen. Offensichtlich betrachteten sechzehn Prozent der amerikanischen Studenten ihr Hauptziel im Leben darin, viel Geld zu verdienen. Ich zitiere buchstäblich viel Geld zu verdienen – und Sie wissen, was das für die Besten in der Spitzenklasse bedeutet. Wissen Sie, was aber die top Kategorie dieser jungen Studenten war? 78 % der amerikanischen Studenten waren besorgt, wie sie es selbst ausdrückten, einen Sinn und Zweck in ihrem Leben zu finden. (…)
- (…) Und Sie werden es nicht glauben…in meinem Alter.. mit grauem Haar…habe ich vor Kurzem angefangen, Flugstunden zu nehmen. Wissen Sie, was mein Fluglehrer mir gesagt hat? Wenn du hier anfängst… und hier hin kommen möchtest (Ost)… gerade auf dieses Ziel zusteuerst und dann ein Seitenwind kommt, wirst du wegdriften und du wirst hier (falsch) landen (…). Wir müssen also das tun, was Piloten als „crabbing“ bezeichnen.. Er sagte, Sie müssen nördlich dieses Flugplatzes fliegen, und Sie müssen so fliegen, als ob Sie in diese Richtung wollen. Wenn Sie dann über diesen Flugplatz fliegen, landen Sie tatsächlich hier.(…) So gilt es auch für den Menschen…
- Ich würde sagen, wenn wir den Menschen so nehmen, wie er wirklich ist, machen wir ihn schlechter. Aber wenn wir ihn überschätzen (…); wenn wir idealistisch erscheinen und den Menschen in der Überschätzung denken, ihn ansehen.. von oben (…) Wissen Sie, was dann passiert? Wir fördern ihn zu dem, was er wirklich sein kann.
- Also müssen wir in gewisser Weise idealistisch sein, denn dann landen wir in den wahren Tälern. Und Sie wissen, wer das gesagt hat. Wenn wir den Menschen so nehmen, wie er ist, machen wir ihn schlechter, aber wenn wir den Menschen so nehmen, wie er sein sollte, machen wir ihn zu dem, was er werden kann. Das war nicht mein Fluglehrer. Das war nicht ich. Das war Goethe.
- Jetzt werden Sie verstehen, warum ich in einer meiner Schriften einmal gesagt habe, dass dies die treffendste Maxime und das Motto für jede psychotherapeutische Tätigkeit ist. Wenn Sie den Weg eines jungen Mannes zur Sinnsuche nicht erkennen, tragen Sie zur Frustration bei. Aber bitte – wenn Sie sogar kriminelles oder delinquentes Verhalten, Drogenmissbrauch und so weiter bei dem Mann annehmen – dann muss es einen Funken bei der Suche nach dem Sinn geben. Lassen Sie uns das erkennen, lassen Sie uns das vermuten (…) dann werden Sie sehen, Sie werden es ihm entlocken und Ihn zu dem machen, wozu er im Prinzip fähig ist.
Warum die Worte von Viktor Frankl für unsere Resilienz bedeutsam sind
Viktor E. Frankl (Professor für Neurologie und Psychiatrie u.a. an der Universität Wien und Begründer der Logotherapie) überlebte als jüdischer Wissenschaftler während des Naziregimes verschiedene Konzentrationslager und beschrieb in seinen Büchern, wie er und andere Häftlinge, trotz schwerster Bedingungen, einen Sinn im Leben erkannten.
Für Viktor Frankl selbst, war der Wunsch, in Zukunft Vorlesungen zu halten und über die Auswirkungen des Lagers auf die menschliche Psyche zu berichten, ein Überlebensfaktor.
Tatsächlich hielt er allein schon zum Zeitpunkt seines Buches „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ ca. 129 Vorträge allein in den USA. An amerikanischen Universitäten berichtete er von seinen Erfahrungen und kam mit einer Vielzahl von Studierenden ins Gespräch, die nach dem Sinn ihres Daseins suchten.
Hinter der Krise steckt das Gefühl von Sinnlosigkeit
Gestützt auf wissenschaftlichen Studien beobachtete Viktor Frankl in seiner Tätigkeit als Professor vor allem die Tatsache, dass Menschen, trotz wirtschaftlicher guter Verhältnisse, angestrebter akademischer Karriere, Gesundheit und einem scheinbar glücklichen Leben – an Suizid dachten. Als Grund nannten sie, dass sie keinen Sinn im Leben erkennen konnten.
Studien von damals zeigten, dass, nach einem Verkehrsunfall, die zweithäufigste Todesursache unter amerikanischen Studenten Selbstmord war. Die Zahl der nicht tödlich ausgegangenen Versuche und die hohe Dunkelziffer sollten hierbei noch mitbedacht werden. Auch heute sind die Zahlen besorgniserregend. Laut dem statistische Bundesamt starben 2020 in Deutschland ca. 9026 Personen durch Suizid (+ Dunkelziffer). Zudem weisen Studien auf einen Anstieg an Suizidversuchen von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit der Corona Pandemie hin.
Der Deutsche Ethikrat veröffentlichte gerade aktuell auf Grund der steigenden Zahlen psychischer Belastungen in Folge der Pandemie, die Empfehlung, Kinder, Jugendliche und jungen Erwachsenen mehr Aufmerksamkeit, Beistand und Unterstützung in und nach gesellschaftlichen Krisen zukommen zu lassen. Dazu forderte der Ethikrat mehr niederschwellige und flächendeckende psychosoziale Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche. Die Zahlen sind bereits seit Jahren stark besorgniserregend. Soziale Verbände, Kinderärzte und Bildungseinrichtungen versuchen seit Langem unermüdlich hierauf aufmerksam zu machen. Leider fehlte es bislang an staatlicher Unterstützung zur Prävention und auch öffentlichen Diskussionen, die auf Suizidgefährdung aufmerksam machen und über Themen, wie Depressionen, offen sprechen.
Sinnleere und Frustration
Zurück zu Viktor Frankl: Er sprach damals schon von einem „existentiellen Vakuum“ – und meinte damit ein „abgründiges Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leergefühl vergesellschaftet ist“. Er beschrieb dieses Vakuum wie folgt:
„Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muß, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll. Nun, weder wissend, was er muß, noch wissend, was er soll, scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er will. So will er denn nur das, was die anderen tun- Konformismus! Oder aber er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen – Totalitarismus.“
Als weiteren Faktor nannte er die „Noogene Neurose“ , die einen Zustand beschreibt, in der sich der Mensch in einer tiefen, existentiellen Lebenskrise befindet und Verbitterung oder Antriebslosigkeit mit sich zieht. Diese hänge laut V. Frankl mit Gewissenskonflikten, Wertekollision und existentieller Frustration zusammen.
Wie Kompetenzunterstellung nach Viktor Frankl mit unserer Resilienz zusammenhängt
Im Vortrag spricht sich Viktor Frankl deutlich dafür aus, dass wir den Zustand der Frustration bei Menschen unterstützen, wenn wir sie nicht auf ihrer Suche nach dem Sinn ermutigen und „überschätzen“. Diese Überschätzung zeigt sich zum Beispiel, in dem wir Menschen konkret etwas zutrauen, sie auf ihre „schlummernden Talente“ hinweisen, wie es Dr. Gunther Schmidt nennt, diese reichlich würdigen und den Menschen Kompetenzen unterstellen, die sie selbst – noch – nicht erkennen können.
Kompetenz-Amnesie bei Stress
Doch hört der Mensch es auch, wenn ihm etwas zugetraut wird? Und kommt es zu Irritationen, wenn der Mensch es nicht gewohnt ist? Wir Menschen verfügen über einen wahren Schatz an Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen. Unsere Aufmerksamkeit ist aber häufig stark defizitorientiert und richtet sich auf das, was wir meinen, nicht zu können. In diesem Zusammenhang begleiten uns auf unserem Lebensweg häufig auch Glaubenssätze wie „ich bin nicht gut genug“, „streng dich an“ oder „nur wenn ich Leistung erbringe, werde ich anerkannt, geliebt“ etc., die zu Druck und Stress führen.
Das Stressempfinden kann zusätzlich durch ein Phänomen verstärkt werden, das nach Dr. Gunther Schmidt als „Kompetenz-Amnesie“ beschrieben werden kann. Damit ist gemeint, dass wir unsere Ressourcen schlichtweg vergessen, wenn wir unter hohem Stress stehen. Uns fällt es zunehmend schwerer, auf die Kompetenzen zurückzugreifen, die uns helfen, Entscheidungen zu treffen, Konflikte zu lösen oder auch unseren gesunden Stolz und Selbstwert zu aktivieren.
Eine Erklärung hierfür finden wir mit einem kurzen Blick in unser Gehirn. Denn bei hohem dysfunktionalen Stress wird unser präfrontaler Cortex abgeschaltet – der wichtigste Teil unseres zentralen Steuerungsnetzwerks. Er ist für unsere kognitiven Bewertungen, unser logisches Denken und entsprechend auch für eine realistische Draufsicht auf unserer Fähigkeiten und Ressourcen zuständig. Dazu kommt, dass bei hohem Stress gleichzeitig unser limbisches System und die Amygdala aktiviert wird, die für unser emotionales Erleben zuständig ist. Sie bewertet alle eingehenden Reize und arbeitet sozusagen als „Alarmglocke“, wodurch biologische Stressreaktionen wie Flucht, Kampf, Starre folgen.
Starre und innere Blockaden
Evolutionsbedingt diente die „Stress-Kurzzeit-Reaktion“ der „Starre“ (Freeze) dem Überleben, wenn es bei Gefahren keine Hoffnung mehr gab, zu kämpfen oder zu flüchten. Zu beobachten ist die Schreckstarre bei Tieren, die sich bei Bedrohung tot stellen oder bei uns Menschen in Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen. Hier schaltet sich unser Denk- und Schmerzempfinden kurzzeitig aus und unsere Erinnerungen werden zum Teil ausgeblendet.
Auf den „normalen Alltag“ übertragen, erfahren wir diese Starre jedoch auch bei chronischen Stress, ausgelöst beispielsweise durch Zeitdruck oder zu hohen Erwartungshaltungen. Entsprechend kann es vorkommen, dass wir Dinge vergessen, uns wie gelähmt fühlen, Kreativität, Ziele und Lösungswege blockiert werden. Kennen Sie solche Situationen?
Da uns ein objektiver Blick auf unsere Ressourcen und Kompetenzen allein oft fehlt, brauchen wir gerade in diesen Momenten Menschen, die uns auf unsere Stärken hinweisen und nicht müde werden, diese auch zu wiederholen. Denn wenn wir unter „Kompetenz-Amnesie“ leiden, kann es vorkommen, dass wir die Sätze mehrfach hören müssen, damit auch wir wieder anfangen, daran zu glauben.
Unterstützung
Hier bieten sich auch selbststärkende Affirmationen in Verbindung mit Beruhigungstechniken an, die man jeden Tag wiederholen sollte, um sich der eigenen Kompetenzen wieder bewusst zu werden. Wichtig ist, die Sätze so zu formulieren, dass sie sich stimmig anfühlen und innerlich angenommen werden können. Hier hilft zum Beispiel ein guter Coach, der uns durch diese Prozesse führt, unsere Kompetenzen nicht nur erkennt, sondern diese auch bewusst hervorhebt und trainiert.
Im Resilienztraining und emotionsfokussierten Coaching lernen Sie, ihren persönlichen Stresskreislauf zu verstehen, wie Sie innere Blockaden wieder wahrnehmen und ihr Alarmzentrum im Gehirn beruhigen können. Je funktionaler und gelassener wir täglichen „Stresseinladungen“ begegnen, desto mehr stärken wir unsere Resilienz und damit auch die Fähigkeit, unter schweren Bedingungen handlungsfähig zu bleiben. Die Message, dies nicht alles allein schaffen zu müssen, ist für uns zentral. Denn Resilienz bedeutet auch: Soziale Unterstützung und Hilfe anzunehmen.
Bindung
So gehört der Schutzfaktor Bindung auch zu den zentralen Säulen zur Stärkung unserer Resilienz. Denn wir Menschen sind soziale Wesen und streben nach Zuneigung, Liebe und Anerkennung. Schon die Studie von Emmy Werner aus dem Jahr 1977 zeigte, wie zentral der Schutzfaktor Bindung für die gesunde Entwicklung von uns Menschen ist. Sie begleitete auf der Insel Kauai fast 700 Kinder mit biologischen und psychologischen Risikofaktoren, die schwersten Bedingungen ausgesetzt waren. Darunter Alkoholismus oder psychiatrische Diagnosen der Eltern.
Interessant an der Studie ist für uns an dieser Stelle, dass die emotionale Bindung unabhängig von den Eltern, durch andere Bezugspersonen aus dem Umfeld ausgeglichen werden konnte. Hierzu zählten, neben der Familie, beispielsweise Lehrer:innen, Menschen aus sozialen Einrichtungen, Kirchen etc., die den Kindern begegneten, Vertrauen schenkten, Trost und Mut zusprachen.
Die Studie zeigte, dass die Kinder, die hier eine gesunde, emotionale Beziehung aufbauten, eine größere Selbstständigkeit und soziale Reife entwickelten. Die Überzeugung, etwas schaffen zu können, unabhängig von der sozialen Herkunft und verantwortlich für das eigene Handeln zu sein, stärkte den Überlebenswillen. Darüber hinaus führte es dazu, dass diese Kinder auch zukünftig in widrigen Lebensumständen andere Menschen um Unterstützung fragten.
Wozu uns die Worte von Viktor Frankl ermutigen
Viktor Frankl war bekennender Bergsteiger und verglich den Bergaufstieg mit der Suche nach dem Sinn. Er beschrieb beispielsweise die Berge als „Lehrmeister“, verknüpfte sie mit Zielsetzungen auf unserem Lebensweg und der Annahme von neuen Herausforderungen. Die Gipfel als Vision; der Mut, den es braucht, um weiter zu machen; die Energie und Motivation, die beim Klettern freigesetzt wird und letztlich die Erfüllung, wenn der Gipfel erklungen ist und der Mensch zu einem anderen werde.
Seitenwindlandung
Viktor Frankl stieg aber nicht aus reiner Freizeitgestaltung auf Berge, sondern bewusst, um Ängste zu überwinden. Ähnliches zeigte er, als er noch mit 74 Jahren seinen Flugschein machte – nach seinen Aussagen, um sich auch der Höhenangst zu stellen. Seine Botschaft dahinter war deutlich: Trotzdem „Ja“ zum Leben zu sagen. Trotz Ängsten, trotz Sorgen und Befürchtungen, neue Dinge auszuprobieren, sich mutig Herausforderungen zu stellen – mehr zuzutrauen, als einem vielleicht zuerst möglich erscheint und dadurch über sich hinauswachsen.
„Angenommen ich will nach Osten fliegen, während ein Seitenwind von Norden kommt, dann würde ich mit meinem Flugzeug nach Südosten abgetrieben werden; steuere ich hingegen die Maschine nach Nordosten, dann fliege ich tatsächlich nach Osten und lande dort, wo ich landen will.“
In seinem Vortrag zieht Viktor Frankl den Vergleich zu den Worten seines Fluglehrers bzw. genauer gesagt der „Seitenwindlandung“ – auch „crabbing“ genannt. Hiermit wird der Vorgang von Piloten bezeichnet, durch bewusstes Übersteuern, trotz starken Seitenwinds, letztlich die Landebahn sicher zu erreichen. Der Vergleich zur Krise liegt hier nahe. Denn ebenso wie Landungen ohne Seitenwind die absolute Ausnahme darstellen, gibt es wohl auch kaum ein Leben ohne Probleme, Stress und Krisen. Was wäre also, wenn wir uns trauen – mehr zutrauen – und bewusst eine Richtung übersteuern, mit dem Ziel, Turbulenzen standzuhalten und am Ende richtig anzukommen?
Letztlich geht es nicht darum, den Seitenwind zu umgehen oder ihn zu ignorieren – denn das wäre schlichtweg zwecklos. Vielmehr geht es um die Akzeptanz und um ein kluges, umsichtiges Vorgehen, welches auf Krisen vorbereitet und die Fähigkeit mit sich zieht, flexibel mit der Dynamik der äußeren Bedingungen umzugehen. Und diese Fähigkeit ist unsere Resilienz.
Stabiles Fahrwerk
Wie hoch unsere Resilienz ist, hängt damit zusammen, wie wir Anforderungen begegnen und worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken – ähnlich wie der Pilot den Wind einkalkulieren und ausgleichen muss, um präzise die Landebahn wieder erreichen zu können.
Grundlage, um das Ziel sicher erreichen zu können, ist die Stabilität des Fahrwerks. So ist es auch mit uns Menschen. Je mehr – und je früher wir den Zugang zu uns und unseren Schutzfaktoren stärken, desto stabiler sind wir auch im Angesicht von Krisen und dem Sturm, der manche Male um uns fegt und uns von unserem (Seelen-) Weg abkommen lässt. Die Sinnsuche ist gerade deshalb nach Viktor Frankl so existentiell, da jeder Mensch letztlich in allem was er tut, darauf aus ist, Sinn zu finden und zu erfüllen.
„Was ich damit umschreiben will, ist die Tatsache, daß Menschsein allemal über sich selbst hinausweist auf etwas, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder auf anderes menschliches Sein, dem wir da liebend begegnen. Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er selbst.
Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Maße, in dem er sich selbst vergißt, in dem er sich selbst übersieht. Ist es nicht wie beim Auge, dessen Sehnsüchtigkeit davon abhängt, daß es nicht sich selbst sieht? Wann sieht denn das Auge etwas von sich selbst? Doch nur, wenn es erkrankt ist: Wenn ich an einem grauen Star leide, dann sehe ich eine Wolke – und damit nehme ich meine Sinntrübung wahr. Und wenn ich an einem grünen Star leide, dann sehe ich einen Hof von Regenbogenfarben rings um die Lichtquellen – das ist mein grüner Star. Im gleichen Maße ist aber auch die Fähigkeit meines Auges, die Umwelt wahrzunehmen, geschmälert und beeinträchtigt.“ Viktor Frankl 1985
Das Plädoyer von Viktor Frankl: Mut zur Veränderung
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit eher auf verbindende oder trennende Elemente? Auf Unterschiede oder Gemeinsamkeiten? Auf die Vergangenheit oder die Zukunft? Auf die Angst oder die Zuversicht?
Veränderungen anzunehmen und nach neuen Lösungen und Zielen in der Zukunft zu suchen, ist ein wichtiger Schutzfaktor. Je mehr wir lernen, flexibel mit Veränderungen umzugehen, desto mehr beruhigen wir unser Stresssystem. Ganz nach Viktor Frankl: (Flug-) Angst nicht zu verdrängen, sondern einen Schritt nach dem anderen mutig voran zu schreiten und Neues zu wagen. Wir verschließen gerne im wahrsten Sinne des Wortes unsere Augen aus der Befürchtung vor Veränderungen, dabei ist die Annahme von Veränderungen gerade häufig ein Schlüssel auf dem Weg hin zu einem neuen „Leuchten in den Augen“ und neuer Sinnerfüllung.
Vertrauensvorschuss für die Seele
Seelische Gesundheit hängt unseres Erachtens mit der Ausrichtung auf Sinnhaftigkeit und der tiefen Gewissheit zusammen, nicht allein, sondern Teil etwas Größeren zu sein. Vielleicht, wie ein Passagier im Flugzeug, manche Male auch vertrauen zu dürfen. Darauf, getragen zu werden, um nach der Landung aufzuatmen und neue Dankbarkeit für den festen Boden unter den Füßen zu spüren ;-)
Es ist aber dieser Vertrauensvorschuss, der so manchen Menschen irritiert. Gerade in einer Gesellschaft, in der das Bildungssystem auf Defizite orientiert ist und der Mensch anhand von Zertifikaten und Formalien gemessen wird, anstatt die Stärken hervorzuheben und groß zu machen. Hier zeigen sich natürlich auch kulturelle Unterschiede, beispielsweise im Vergleich zur amerikanischen Mentalität, die vielmehr auf Selbstverwirklichung von Träumen ausgerichtet ist.
„Jedenfalls läßt sich der Wille zum Sinn nicht als ein bloßes Desiderat, als ein frommer Wunsch, abtun, als „wishful thinking“. Eher handelt es sich um eine „self-fulfilling prophecy“, wie die Amerikaner eine Arbeitshypothese nennen, die das, was sie entwirft, zu guter Letzt auch hervorbringt.“ – Viktor E. Frankl
Viktor Frankl ermutigt mit seinen Worten, groß zu träumen und ein positives Zukunftsbild zu schaffen. Wichtig ist natürlich ein gesunder „Realitätscheck“ besonders in Krisenzeiten. Und auch eine gut gemeinte Kompetenzunterstellung führt letztlich nicht weit, wenn wir selbst nicht anfangen, daran zu glauben. Deshalb braucht es oft Zeit und Raum, den Zugang zu uns (wieder) zu finden. Vor allem aber braucht es Menschen, die anderen Menschen die Hand reichen. Besonders mit Blick auf die steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, ist es wichtig, eine Stütze zu sein, zu neuen Taten zu ermutigen, Zutrauen auszusprechen und die Suche nach dem persönlichen Lebenssinn anzutreiben, damit der Mensch über sich hinauswachsen kann.
Unsere Seele blüht auf, wenn jemand an uns geglaubt. Wann waren Sie das letzte Mal dieser jemand für einen anderen Menschen?
„Wie man weiß, gibt es eine sogenannte – sich als solche bezeichnende »Tiefenpsychologie«. Wo aber bleibt die »Höhenpsychologie«, die den Willen zum Sinn mit in ihr Gesichtsfeld einbezieht?“ Viktor E. Frankl 1985
- Quelle: Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Suche nach dem Sinn, Piper Verlag 2019, 1. Auflage 1985
- Weitere spannende Informationen zu Viktor E. Frankl finden Sie zum Beispiel auf der Internetseite des Viktor Frankl Zentrums in Wien: www.franklzentrum.org
Sollten Sie sich aktuell in einer schweren Zeit befinden, scheuen Sie sich bitte nicht, nach Hilfe zu fragen und sprechen Sie mit anderen über Ihre Sorgen und Ängste, z.B. mit ihrem Hausarzt, psychosozialen Beratung oder der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 (anonyme, kostenlose Beratung zu jeder Tages- und Nachtzeit; auch Mail- und Chat-Beratung möglich). |
Christina Comnick, M.A. Management–Education–Diversity (Sozial- und Gesundheitsmanagement), ist Kooperationspartnerin der Resilienz Akademie und Expertin für „Seelische Resilienz“. Gemeinsam mit Sebastian Mauritz entwickelt sie das Konzept und leitet die dazugehörige Fortbildung. Sie ist Resilienz-Trainerin & Coachin, Antigewalt- und Kompetenztrainerin und setzt sich seit ca. 15 Jahren für die Prävention seelischer Gesundheit und Krisenintervention ein. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Themen: Sinn, Spiritualität, Intuition, Emotionsregulation und Deeskalation. (www.christinacomnick.de)
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 150 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de).