Wir alle leben in Beziehungen. Und damit ist nicht nur die Beziehung zu einem Liebespartner oder einer Liebespartnerin gemeint. Denn wir kommen schon als Beziehungswesen auf die Welt – die Bindung zu unseren Eltern/ Erziehenden ist für uns genauso überlebenswichtig wie Nahrung. Und auch im Erwachsenenalter sind es Beziehungen, die einen elementaren Schutzfaktor gegenüber Problemen, Stress und Krisen darstellen.
Warum Bindung DER Schutzfaktor ist
Der Mensch ist im Großen und Ganzen auf andere Menschen angewiesen, um Glück, Wohlbefinden und Gesundheit zu erfahren. Dies wird besonders deutlich, wenn wir uns unsere Neurobiologie anschauen.
So fasst der Neurowissenschaftler und Psychiater Joachim Bauer in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“ die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, dass der Mensch auf soziale Resonanz und Kooperation ausgelegt ist. Schließlich sind es zum Großteil Bindungen, die unser neuronales Belohnungsnetztwerk anspringen lassen. Dadurch werden Botenstoffe und Hormone freigesetzt wie Dopamin, Opioide und Oxytocin, die uns ein angenehmes Gefühl vermitteln aber auch biologische Effekte wie die Stärkung des Immunsystems oder Senken des Blutdrucks haben.
Gerade weil unsere Belohnungssysteme und auch unser Motivationssystem durch Beziehungen angeregt wird, streben wir intuitiv nach Bindung. Wenn diese fehlt, hat das sogar drastische Konsequenzen für unser System: So zeigte eine große Metaanalyse von 70 Studien aus dem Jahr 2015, dass Einsamkeit oder ein Gefühl von sozialer Isolation die Sterberate um bis zu 32% erhöht – alters- und geschlechtsübergreifend. Gerade in der Corona-Zeit, die von social Distancing geprägt ist, sind das schockierende Zahlen.
Darüber hinaus ist Bindung eben auch der Schutzfaktor, der soziale Unterstützung möglich macht – ein wichtiger Faktor für eine starke Resilienz. Denn wenn wir ein Gefühl des Eingebunden seins haben, erleben wir Herausforderungen als bewältigbarer. Aus diesem Grund sehen Eilert & Mauritz das Eingebunden sein als einen weiteren, zusätzlichen Kohärenzfaktor neben Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit.
Was macht resiliente Beziehungen aus?
Wie können wir es also schaffen, diesen Schutzfaktor zu nutzen, um unsere Resilienz im Umgang mit Stress zu stärken? Resiliente Beziehungen bestehen vor allem aus zwei Faktoren: einer gesunden bzw. bezogenen Autonomie und erfüllten Beziehungsbedürfnissen. Im Folgenden schauen wir uns diese beiden Faktoren genauer an.
Zwischen Autonomie und Symbiose
Sowohl der Begriff der Autonomie als auch der Begriff der Symbiose nehmen eine große Bedeutung in der Transaktionsanalyse (TA) ein. Das Ziel der Transaktionsanalyse ist nämlich eine integrierte und autonome Persönlichkeit zu entwickeln. Der Entwickler der TA, Eric Berne, stellt dabei drei Eigenschaften einer autonomen Persönlichkeit auf:
- Die Fähigkeit zur ungefilterten sinnlichen Wahrnehmung – Achtsamkeit
- Die Flexibilität in Denken, Fühlen und Handeln – Spontanität
- Die Beziehungsfähigkeit und Offenheit – Intimität
Nun zeigt der letzte Punkt schon auf, dass Autonomie nicht unabhängig von Beziehungen entstehen kann. Würden wir Autonomie ohne den Bezug zu anderen Menschen um uns herum leben, wäre dies bloße Rücksichtslosigkeit. Deshalb schlägt der Transaktionsanalytiker Leonhard Schlegel den Begriff der bezogenen Autonomie vor, um zu betonen, dass menschliche Autonomie in Beziehungen nur durch soziale Rücksicht möglich ist.
Der Gegenpol zur Autonomie ist die Symbiose. Nun hört sich die Beschreibung einer symbiotischen Beziehung zunächst sehr harmonisch an. Aus der Biologie in die TA übertragen bedeutet die Symbiose ein Zustand, bei dem sich zwei oder mehr Personen so verhalten, als hätten sie ein gemeinsames Ich-Konzept. Übertragen auf Beziehungen ist eine Symbiose dann nicht harmonisch, sondern pathologisch. Die Individualität eines jeden Partners löst sich dann zugunsten des Wir-Gefühls auf.
Vielleicht kennen Sie ja solche Paare, bei denen ein Einzelner prinzipiell im Plural spricht. Für eine gesunde und resilienzfördernde Beziehung ist eine solche Aufgabe der Autonomie schädlich.
Das Ziel einer resilienten Beziehung ist es sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen: Ein Wir-Gefühl zu ermöglichen bei gleichzeitiger bezogener Autonomie. Und dies gelingt durch die Erfüllung der Beziehungsbedürfnisse.
Die Beziehungsbedürfnisse nach Erksine
Der Psychotherapeut Richard Erksine stellte 2002 heraus, dass menschliche Bedürfnisse gibt, die nur im zwischenmenschlichen Kontakt entstehen, im Gegensatz zu Basisbedürfnissen wie Nahrung beispielsweise. Obwohl es nach Erksine unendlich viele Beziehungsbedürfnisse geben kann, stellt er acht entscheidende Aspekte besonders heraus.
Sicherheit
Dies ist das Bedürfnis, sich in Kontakt mit einer Person mitsamt der eigenen körperlichen und emotionalen Verletzlichkeit sicher zu fühlen. Anne Kohlhaas beschreibt diese Sicherheit in ihrem Artikel „Leben in Beziehungen“ als einen Ort, an dem wir unser wahres Ich zeigen können, ohne Respekt oder Zuneigung zu verlieren. Psychologische Sicherheit ist darüber hinaus einer der wichtigsten Faktoren für Teamresilienz.
Wertschätzung
In resilienten Beziehungen sind die individuellen Bedürfnisse, Gefühle, Handlungen oder Wahrnehmungen legitim und werden als bedeutsam und berechtigt wertgeschätzt. Für diese Würdigung ist ein gegenseitiges Verstehen unabdingbar.
Akzeptanz und Anerkennung von bedeutsamen Personen
Dieses Beziehungsbedürfnis bezieht sich nicht auf einzelne Beziehungen im Speziellen, sondern auf unser allgemeines Beziehungsempfinden. Denn um diesen Faktor der Bindung zu erfüllen, brauchen wir die Akzeptanz und die Annahme einer für uns bedeutsamen Person, die wir als größer, stärker und weiser als wir selbst wahrnehmen.
Verständnis und Gleichklang
Ein weiteres Beziehungsbedürfnis ist jenes nach der Bestätigung der eigenen Erfahrungen, durch das Teilen von Erfahrungen. Erksine beschreibt, dass dieser Aspekt der Gegenseitigkeit „mutuality“ zentral ist. Eine subtile Form des Gleichklangs ist das sogenannte Pacing, das im NLP angewandt wird, um in Verbindung mit dem Gegenüber zu gehen.
Einzigartigkeit
Hierbei geht es darum, dass wir in unserer Einmaligkeit akzeptiert werden. Dieses Bedürfnis nach Selbstdefinition bedarf der Wahrnehmung und Akzeptanz dessen, was anders ist: Bei uns selbst und bei anderen. Denn oft definieren wir wer wir sind, indem wir uns davon abgrenzen, wer wir nicht sind. Was eine fehlende Akzeptanz des Ungleichseins auslöst, können Sie in den traurigen Kapiteln unserer Geschichte sehen.
Einflussnahme
Obwohl dieser Punkt nicht nach einer gesunden Beziehungsgestaltung klingt, ist es uns auch in resilienten Beziehungen ein wichtiges Bedürfnis bis zu einem bestimmten Punkt Einfluss auf unserer Gegenüber ausüben zu können. Dabei kann die Grenze zwischen der legitimen Einflussname, die auch vereinbar mit der Autonomie des anderen ist, und Manipulation sehr subtil und dünn sein.
Aktiviert werden durch Initiative anderer
So sehr wir unsere Selbstwirksamkeit in resilienten Beziehungen brauchen, so wichtig ist es ebenfalls, sich durch andere aktivieren zu lassen. Hier hinter steht das Bedürfnis nach Kontakt, Beachtung und Anregung einer anderen Personen. Wenn dieses Bedürfnis übersteigert wird, besteht die Gefahr einer großen Abhängigkeit und Erwartungshaltung an andere, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen.
Liebe ausdrücken
Zuletzt steht das Beziehungsbedürfnis der Liebe im Vordergrund. Und zwar nicht nur Liebe, Zuneigung und Wertschätzung zu erfahren (was aus den acht Beziehungsbedürfnissen insgesamt erwächst), sondern auch frei ausdrücken zu können. Eine gesunde und resiliente Beziehung lebt davon Fürsorge, Dankbarkeit und Wertschätzung durch das eigene Handeln auszudrücken. Übrigens spielt dieses Beziehungsbedürfnis auch im beruflichen Kontext eine große Rolle, da es die Grundlage für gemeinsame Zielerreichung und Aktivität stärkt. Liebe ist damit die Hüterin aller Beziehungen.
Diese acht Beziehungsbedürfnisse bestehen während unseres ganzen Lebens – sie sind für uns als Kinder ebenso bedeutsam und tragend wie als Erwachsene. Außerdem sind sie in allen Beziehungen, die wir führen, an jedem Tag gegenwärtig.
Wie Sie resiliente Beziehungen stärken
Um Beziehung zu verbessern und authentische, tiefe und stärkende Bindung zu schaffen, ist es wichtig diese Beziehungsbedürfnisse zu kennen und auf sie eingehen zu können. Dabei stehen nicht immer alle Bedürfnisse gleichzeitig im Vordergrund, mal ist ein bestimmtes Bedürfnis wichtiger als ein anderes, aber wir alle besitzen sie, wenn es um gesunde Beziehungen geht. Ihre Beziehungsgestaltung an die Bedürfnisse Ihres Gegenübers anzupassen, hilft Ihnen dabei, in eine gute und wohltuende Verbindung zu anderen Menschen zu gehen.
Beziehungsbedürfnisse erkennen
Zunächst ist es wichtig zu erkennen, welches der Beziehungsbedürfnisse in der Kommunikation gerade im Vordergrund steht oder sogar verletzt wird. Denn hier liegt schnell die Gefahr in Missverständnisse zu geraten oder aneinander vorbei zu handeln.
So ist es zum Beispiel für Sie als Coach enorm wichtig zu erkennen, ob Ihr:e Klient:in gerade die Akzeptanz und Führung einer bedeutenden Person in Ihnen sucht oder jemanden, der die eigenen Erfahrungen durch Gegenseitigkeit validiert. Gleiches gilt für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wenn Ihr Kind das Bedürfnis nach Einfluss befriedigen möchte, Sie aber das Bedürfnis nach der Aktivierung durch andere befriedigen.
Das Erkennen des bestehenden Bedürfnisses und das auf der gleichen Ebene ansetzende Handeln ist also unerlässlich für resiliente Beziehungen. Hierzu ist einer der drei Autonomie-Aspekte zentral: Die Flexibilität in Denken, Handeln und Fühlen, die Berne als Spontanität bezeichnet. Für Sie als Führungskraft ist es zum Beispiel sinnvoll als bedeutende Autoritätsperson Anerkennung zu geben und gleichzeitig dazu in der Lage zu sein auch Einfluss ausüben zu lassen. Als Lebenspartner:in ist es für Sie genau so wichtig Gleichheit zu betonen wie Einzigartigkeit zu akzeptieren.
Um Bedürfnisse präzise zu erkennen, können Sie Ihre Fähigkeit zur Mimikresonanz schulen. Anschließend braucht es hier eine flexible Anpassung an die Situation und den Beziehungspartner oder die -partnerin, um Resilienz zu fördern.
Beziehungsbedürfnisse kommunizieren
In einer resilienten Beziehung sind Sie nicht nur in der Rolle, die Bedürfnisse des anderen zu erkennen, sondern auch Ihre Bedürfnisse sollen erkannt werden. Damit die Bedürfnisbefriedigung dann schneller erfolgen kann, ist es hilfreich Bedürfnisse direkt zu kommunizieren.
Natürlich ist es eine Möglichkeit zu sagen: „Mein Bedürfnis nach Einflussnahme ist gerade verletzt“. Das wird aber sehr wahrscheinlich für Verwirrung sorgen und erst recht nicht dazu beitragen, dass Sie besser Einfluss nehmen können.
Wie können wir Bedürfnisse also ansprechen, ohne dass jeder in unserem sozialen Umfeld ebenfalls diesen Artikel gelesen haben muss, um die Beziehungsbedürfnisse zu verstehen? Die Antwort liegt in Ich-Botschaften und Und-Formulierungen.
„Ich fühle mich nicht ernstgenommen“ oder „Ich brauche von dir folgende Handlung, damit …“ sind Sätze, die direkt kommunizieren, was Ihnen genau in diesem Moment oder in der generellen Beziehungsgestaltung wichtig ist. Subjektive und direkte Mitteilungen helfen, verletzte Bedürfnisse sichtbar zu machen und vielleicht kommt dadurch ebenfalls ein verletztes Bedürfnis des anderen zum Vorscheinen, das Ihnen nicht aufgefallen war.
Um den Gegenüber mit dem eigenen Bedürfnis nicht zu „überfahren“, bieten sich Und-Formulierungen an. Zum Beispiel: „Ich verstehe deinen Ärger und ich frage mich, ob du nicht auch Situationen kennst, in denen…“
Das „Und“ ist insofern wichtig, dass Sie damit nicht die Position Ihres Gegenübers negieren oder außer Acht lassen – vielmehr befriedigen Sie damit das Bedürfnis nach Wertschätzung, während Sie Ihr Anliegen mitteilen.
Innere Haltungen für resiliente Beziehungen
Nun können Sie nicht davon ausgehen, Bedürfnisse immer direkt zu erkennen, oder dass Ihr Gegenüber Ihnen diese offen mitteilt. Schließlich haben wir auch Beziehungen, die wir nicht als so intim wahrnehmen, dass Bedürfnisse generell ein Thema sind, zum Beispiel unter Kollegen und Kolleginnen oder im Bekanntenkreis. Doch auch diese Beziehungen sind wichtig für unser Wohlbefinden und unsere Resilienz.
Um also generell resiliente Beziehungen zu ermöglichen, helfen Ihnen die folgenden Grundhaltungen im Umgang mit anderen Menschen:
- Du bist okay so, wie du bist.
- Deine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse sind legitim und bedeutsam.
- Du bekommst Orientierung.
- Ich glaube dir, ich verstehe dich.
- Ich akzeptiere deine individuellen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse, auch wenn diese nicht mit meinen übereinstimmen.
- Du kannst Veränderung bewirken.
- Du musst nicht alles allein machen.
- Du kannst Wertschätzung und Fürsorge ausdrücken.
Wenn Sie Menschen allein mit einer dieser Haltungen gegenübertreten und diese voll und ganz ernst meinen, werden Sie merken, welchen Einfluss das auf eine zwischenmenschliche Bindung haben kann.
Gerade in einer globalen Krisenzeit wie die letzten zwei Jahre ist es nicht nur trostspendend mit solch einer Haltungen anderen Menschen zu begegnen, sondern für die mentale und körperliche Gesundheit im Grunde genommen ein Muss. Sehen Sie Menschen mit Ihren Bedürfnissen so, wie sie sind und akzeptieren Sie dies, schenken Sie den Menschen um sich herum und Ihnen selbst einen starken Schutz gegen Probleme, Stress und Krisen.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).