Warum uns Vergebung beschäftigt
Angenommen, Sie werden gefragt, wie Sie Ihre individuelle Resilienz stärken können. Welche Schutzfaktoren fallen Ihnen als erstes ein? Klassisch kommen uns Faktoren wie Achtsamkeit, Bewegung, Wertschätzung oder Lösungsorientierung in den Sinn. Eigenschaften, Fähigkeiten oder Praktiken, die dazu beitragen, dass unser (psychisches) Immunsystem gestärkt wird und wir Stress besser abbauen können. An Vergebung als Schutzfaktor denken die meisten eher selten. Eine „Formel“ für eine gute gesundheitliche Balance könnte sein, stets darauf zu achten, dass die Schutzfaktoren gegenüber den Risikofaktoren überwiegen. Dafür ist es erst einmal wichtig, um die individuellen und kontextuellen Faktoren zu wissen, damit sie auch gestärkt und gefüllt werden können. Doch, welche Füllung braucht der Mensch, wirklich, um Gesundheit aufrechtzuerhalten?
In der Resilienz Akademie beleuchten wir mentale Schutzfaktoren, ebenso wie seelische, körperliche und emotionale Faktoren, die zu einer gesunden Regulation beitragen. Hierzu zählt zum Beispiel auch ein ausgewogener Hormonhaushalt, der auf vielfältige Weise von uns beeinflusst werden kann. Aber was meinen Sie: Wie passt hier so etwas wie Vergebung mit rein? Wie vergeben Sie eigentlich und was hat das mit Resilienz zu tun?
Vergebung als Schutzfaktor der seelischen Resilienz
Wir ordnen Vergebung deutlich als einen Schutzfaktor der seelischen Resilienz ein, da Vergebung als Haltung und Praktik, seinen Ursprung in der Religion und Spiritualität hat und gerade durch Krisen und Zerrüttungen in Verbindung mit unserem Seelenleben steht. Entscheidend ist auch die Zeitkomponente. Denn Vergebung findet nicht kurzfristig „von heut auf morgen“ statt, sondern ist ein langfristiger Prozess.
Im Vergleich zu mentalen oder körperlichen „Soforthilfen“, die unser Stressniveau reduzieren, braucht Vergebung zu aller erst die Erkenntnis, dass man ein „Vergebungsthema“ hat, oder? Denn wir Menschen sind besonders gut darin, Kränkungen und Verletzungen zu verdrängen oder Greul und Missetaten unterschiedlich zu kompensieren. Im Unterbewusstsein laufen diese Erfahrungen aber weiter…und weiter… und weiter. Die Dinge, die „uns auf der Seele lasten“, können wir als Risikofaktoren einordnen. Schuld, Schamgefühle, Unversöhnlichkeit, Rachegedanken belasten Menschen zum Teil stark und können sich massiv auf das Stressniveau und entsprechend auf den gesamten Gesundheitszustand auswirken.
Auswirkungen
In einem Artikel zur „Vergebung und Seelenruhe“ (Forgiveness and stillness of soul – a spiritual therapeutical process) weisen die Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie Paraskevi Mavrogiorgou und Georg Juckel auf die Studien hin, die zeigen, dass das „Nicht-vergeben-Können“ mit erhöhter Psychopathologie korreliert. Die Lebensqualität sei deutlich verschlechtert und das Stressniveau erhöht (Verweis auf: Bonelli 2013, Solomon et al. 2009; Knaevelsrud 2010).
Das trifft in besonderem Maße zu, wenn es um schwere Krisen und traumatische Verletzungen geht, die einem Menschen zugefügt wurden oder der Mensch selbst mit eigenen, schweren Schuldgefühlen zu kämpfen hat. Professionelle Begleitung ist dann besonders wichtig und eine Haltung, die die Grenzen von Coaching erkennt. Denn das „Nicht-Vergeben“ kann deutlich mit psychischen Belastungen, Depressionen, Ängsten und selbstverletzenden Verhalten zusammenhängen. Wenn gängie Stressregulationstechniken nicht funktionieren, lohnt es sich einmal näher hinzusehen. Hierfür erweisen sich die Praktiken der Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und der Austausch mit anderen, um auch die Faktoren zu „identifizieren“, die im Alltag eher verborgen bleiben.
Seitens der Berater:innen kann kollegialer Austausch und regelmäßige Supervision, wie sie die Resilienz Akademie für ausgebildete Trainer:innen kostenlos anbietet, sehr hilfreich sein. Gerade in speziellen Themen, wie der Vergebungsarbeit, ist es ratsam, ein Netzwerk zu haben, u.a. mit weiterführenden Kontakten, wie der Psychotherapie und Seelsorge, an die der/die Klient:in bei Bedarf vermittelt werden kann.
Dass sich Vergebungsarbeit lohnt, zeigen Studienergebnisse und die Erfahrungen psychotherapeutischer Ansätze. Menschen mit einer höheren Vergebungsbereitschaft, erfahren laut der Forschung auch eine höhere Lebensqualität und leiden weniger unter psychischen Belastungen. Spannend ist der Fakt, dass durch Vergebung auch der Selbstwert steigt und sich Menschen wieder aktiver dem Leben zuwenden (Mavrogiorgou/Juckel: Verweis auf: Stammel & Knaevels 2009, Akhtar & Barlow 2018; Kaleta & Mroz 2020).
Was hinter Vergebung steckt
Begriffseinordnung
Der Begriff Vergebung (griechisch: ἄφεσις, lateinisch: remissio; englisch: forgiveness) findet sich heute auf vielen Ebenen wieder. Am deutlichsten assoziieren Menschen die Vergebung mit Religion und Spiritualität. Das hat auch seine Berechtigung, denn Vergebung findet sich in allen uns bekannten Weltreligionen als eine der wichtigsten Tugenden wieder– ganz besonders im christlichen Glauben. Mittlerweile ist Vergebung aber ein psychologischer Begriff und zum Teil in der psychotherapeutischen und neurowissenschaftlichen Forschung zu finden, die sich mit den Wirkfaktoren von Vergebung beschäftigen.
Gleichwohl ist Vergebung aber nicht nur für Menschen ein Thema, die sich als religiös bezeichnen oder psychologisch damit auseinandersetzen. Vergebung kann auch ein wichtiger Wert sein, den wir von klein auf mitbekommen und der gesellschaftlich oder kulturell geprägt ist. Ein Wert oder auch eine Haltung, die sich zum Beispiel durch Güte, Mitgefühl oder „jmd. eine neue Chance geben“ bemerkbar macht. Wie denken Sie über Vergebung und fällt es Ihnen leicht über Vergebung zu sprechen?
Vergeben – vergessen- versöhnen – verzeihen?
Im Alltag verwenden wir oft unterschiedliche Begriffe und setzen beispielsweise verzeihen als „Alternative“ für Vergebung ein. Beide werden oft synonym verwendet, auch in der Literatur, wobei in Fachdiskussionen hier durchaus auch differenziert wird. Man kann sagen, dass Verzeihen eher gebräuchlich und auch kognitiv greifbarer ist als Vergebung (Wikipedia). Hier geht es in der Regel um das soziale Miteinander und Zerwürfnisse.
Vergebung scheint durch die religiöse Konnotation tiefer, „schwerer“ und langfristiger zu sein und bezieht sich eher auf existentielle Fragen. Dazu geht Versöhnung noch ein Stück weiter, in dem Sinne, dass die Beziehung zwischen dem/der Täter:in und Vergebenden weiter steht oder wieder aufgebaut werden kann. Für die Vergebung hingegen braucht es nicht zwingend den Täter in der Anwesenheit. Es geht vor allem bei der Vergebung darum, einen eigenen Weg der „Befreiung“ zu finden und loszulassen.
„Versöhnung fordert, dass die Parteien ihr Vertrauen zueinander erneuern.“ – Enright 2006
Unterscheidung
Für eine differenzierte Betrachtung von Vergebung lassen sich folgende Ebenen unterscheiden. Zum einen kommt es darauf an, wie schwer die Verletzung ist und über welche Art von Situation wir sprechen. Hierzu kann unterschieden werden zwischen:
- Alltagssituationen: Welche Momente fallen Ihnen hierbei ein? Zum Beispiel in Bezug auf Ihre Kolleg:innen, Kinder, Eltern, Partner:in?
- Lebensereignisse: Damit sind größere Themen gemeint, wie Trennung, Betrug, Arbeitsverluste etc.
- Traumatisierungen: Hier geht es um schwere physische und psychische Gewalt, sexueller Missbrauch, ein plötzlicher Unfall etc.
Eine der wichtigsten Unterscheidungen ist die Art der Vergebung und an wen sie gerichtet ist:
- Vergebung der eigenen Verfehlungen, Scham- und Schuldgefühle (auch intrapersonelle Vergebung oder „self forgiveness“)
- Vergebung in Bezug auf Verfehlungen eines anderen (interpersonelle Vergebung)
- Vergebung in Bezug auf Dritte, wie die Gesellschaft, Regierung, Situation (vgl. Kast 2005)
„Bei Störungen, die durch vergeben, verzeihen oder versöhnen behoben werden können, handelt es sich um Beziehungsstörungen, die durch eine bestimmte Form von Schuld hervorgerufen werden: jener, die nicht durch die Rückgabe eines geschuldeten Gegenstands beglichen werden kann.“ – M. Depner
Alles eine Frage der Schuld?
Im Zusammenhang mit Vergebung, kommt man natürlich nicht herum, zu fragen, wie es überhaupt zur Vergebung kommt und welche Formen es von Schuld gibt. Denn wenn der Mensch ohne sein Gewissen und ohne Schuldgefühle zurecht kommen würde, bräuchten wir auch keine Vergebung? Was passiert, wenn Reue und Vergebung wegbrechen, sehen wir in deutlichster Form im Kriegsgeschehen.
An dieser Stelle möchten wir nicht in das Thema von Schuld tiefer einsteigen, dennoch auf die „Schuldfrage“ und ihrer wichtigen Ausdifferenzierung hinweisen.
„Schuld ist unerfüllte Verantwortung“ , so schreibt es Dr. med. Michael Depner, „(…) Das Wort Schuld kommt von sollen. Der Schuldige soll eine Pflicht erfüllen, damit die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird“. Das schließt dann auch die Frage mit ein: Was empfinden wir überhaupt als gerecht? Wofür tragen wir Verantwortung, wenn wir auf unser Leben schauen? Hiermit verknüpft sind unsere Werte und Moralvorstellungen, die an unser Verantwortungsbewusstsein appellieren. Wenn wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden (können), fühlen wir uns, aus unserer subjektiven Wahrnehmung, schuldig.
Eine wichtige Unterscheidung von Schuld ist nach M. Depner:
- Die Schuld, die beglichen werden kann.
- Die Schuld, die Vergebung braucht.
Die Schuld, die beglichen werden kann, beinhaltet typischerweise Sätze wie: „Ich stehe in deiner Schuld“ , wenn jemand etwas für uns getan hat. Vielleicht hat er/sie uns in Form von finanzieller Unterstützung in der Not geholfen. Das Geld möchten wir daraufhin zurück geben – und können es auch. Damit ist die Schuld durch den sachlichen Austausch und dem Prinzip der Reziprozität ausgeglichen.
Die Schuld, die Vergebung braucht, ist nicht im wechselseitigen Austausch abzuschließen. Es gibt keinen Gegenstand oder eine Tat, die beglichen werden kann und kein „jetzt sind wir quitt.“ Gerade diese Form von Schuld ist es, die sich stark auf das Stressempfinden auswirkt und zur Beeinträchtigung psychischer und physischer Gesundheit führt.
Wenn Menschen sich zum Beispiel die Schuld an einem Unglück oder Tod eines geliebten Menschen geben und sie, rein rational, nicht wissen, wie ein Begleichen dieser Schuld jemals geschehen kann. Diese Schuld kann sich bis ins Tiefste der Seele graben und den Menschen regelrecht lähmen. Gerade hier zeigt sich der existentielle Charakter von Vergebung und warum die Dimensionen der Spiritualität für so viele Menschen ein so wichtiger Anker ist.
Bezug zur Religion und Spiritualität
Vergebung hat als eine „göttliche Tugend“ in allen monotheistischen Religionen – im Judentum, Islam und Christentum, und grundsätzlich im spirituellen Leben einen hohen Stellenwert. Auch im Hinduismus findet sich Vergebung im Mahabharata (der bekannteste indische Epos) durch die Zeilen: „Vergebung ist Brahma, Wahrheit, asketischer Verdienst und dessen Bewahrung, Askese, Heiligkeit und der Zusammenhalt des Universums.“ (Wikipedia).
Im Buddhismus und Hinduismus steht vor allem der Karma-Gedanke im Vordergrund, der aber auch unterschiedlich ausgelegt wird. Wenn der Mensch anderen Lebewesen Schaden und Leid zufügt, wird das Karma im aktuellen Leben und auch in den nachfolgenden Existenzen davon beeinflusst und wirke sich entsprechend aus. Die Kultivierung von Liebe und Mitgefühl, zum Beispiel durch die Metta Meditation, spielt für Buddhisten deshalb eine zentrale Rolle, um Leid zu verringern. Hierzu sei angemerkt, dass die Karma Lehre und buddhistische Geistesschulung- ebenso wie die der anderen Religionen- hoch komplex ist und einer differenzierten Auseinandersetzung bedarf. Die „Schuld“ findet in diesem Sinn keine Vergebung, wie es im christlichen Glauben zu finden ist.
Christentum
Im Christentum wird Vergebung wohl am deutlichsten, zum Beispiel im „Vater unser“, in dem Christ:innen ihren Glauben bekennen und dabei (je nach Religiösität täglich im Gebet oder wöchentlich mit anderen im Gottesdienst) die Bitte aussprechen: „… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“
„Die in diesem Satz enthaltene Vergebungsbitte und Vergebungszusage des Betenden gegenüber seinen Mitmenschen ersetzt das archaische Prinzip der Rache, damit die Eskalation der Gewalt durchbrochen wird, die das friedliche Zusammenleben der Menschen seit Menschengedenken bedroht.“ – J. Kuhl 2015
Man könnte sagen, hier zeigt sich das „Sowohl – als auch Prinzip“. Es geht nicht „nur“ um die anderen, die einen kränken und im Laufe des Lebens Schaden zufügen, sondern ebenso um die eigene Person, die nicht fehlerfrei ist. Im Neuen Testament der Bibel gibt es einige Hinweise (für Christen als Gebote geläufig), wie man damit umgehen kann, sich und anderen zu vergeben, um einen Neuanfang zu ebnen.
Der „Schlüssel“ zur Vergebung ist nach christlichen Glauben Jesus Christus. Im Unterschied zu den anderen Religionen, sei nur durch die Verbindung zu ihm, echte Vergebung möglich. Im Lukasevangelium finden sich zum Beispiel die Zeilen: „Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ oder die „goldene Regel“, die im Matthäusevangelium überliefert ist, wo Jesus lehrt: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun.“ Und wer würde wohl nicht wollen, dass man Nachsicht (Verzeihung, Vergebung) mit ihm hat? Doch wie oft und wie soll das gehen? Siebenzig mal sieben Mal am Tag, sagte Jesus, soll vergeben werden. Also…das hieße ja, immer?!
Hintergrund
Der Hintergrund ist, dass der Vergebende selbst die Opferrolle verlässt, sich befreit und letztlich dem Täter die Gelegenheit zur Reue, vielleicht sogar zur Wiedergutmachung gibt. Fakt ist, dass die Vergebung für viele spirituelle und religiöse Traditionen eine wichtige Lehre und Praxis ist und Vergebung als befreiend und heilend empfunden wird. Es wird daran geglaubt, dass die Seele durch die Vergebung sozusagen von den Ketten der Vergangenheit befreit wird. Das Herz kann sich nach – aufrichtiger – Vergebung wieder öffnen und spirituelles Wachstum wird möglich.
„(…) die Bedeutung des christlichen Vergebungs- und Liebesgebots wird auch neurobiologisch und psychologisch verstehbar: Durch die Liebe, die den ganzen Menschen meint, wird bei dem „Schuldigen“ das System aktiviert, das den ganzen Menschen repräsentiert, mit all seinen Widersprüchen, Bedürfnissen, Fehlern, Stärken und Schwächen (…), sodass dann die Beachtung und Verwertung von Fehlern in einer entsprechenden umfassenden Weise ermöglicht wird.“ – J. Kuhl 2015
Bezug zur Psychologie
Klaus Grawe (1998) hob in seiner Psychotherapieforschung hervor, dass die Wiederherstellung der inneren Balance und „intrapsychischen Inkonsistenz zur Erlangung von Seelenruhe“ ein Ziel der Psychotherapie ist. Vergebung ist Teil der Psychotherapie und wird, ähnlich wie das Konzept der Achtsamkeit, „im säkular-wissenschaftlichen Kontext“ betrachtet (Mavrogiorgou/Juckel 2022).
Der Psychotherapeut und Facharzt für Neurologie Konrad Stauss verbindet die therapeutische mit der spirituellen Sicht auf Vergebung. Nach seiner Vergebungs-Definition, verzichtet eine Person, während er vergibt, auf den Schuldvorwurf und „auf ihren Anspruch der Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts, ohne die erlittene Verletzung zu relativieren oder zu entschuldigen.“ Dieser Verzicht sei primär ein „innerseelischer Vorgang“ und könne auch unabhängig der Täterseite vollzogen werden.
„Vergebung ist eine Copingstrategie, mit der eine Person in Opferposition die belastenden Folgen einer äußeren oder inneren Verletzung bewältigen kann.“ – Stauss 2010
Die Nicht-Anwesenheit des Täters ist ein ganz entscheidender Punkt in der Vergebungsarbeit. Gerade, wenn wir an dieser Stelle Vergebung als „Mittel“ für eine starke seelische Resilienz beschreiben möchten, ist es zentral, Wege zur Selbststeuerung zu finden. Wichtig ist, sich immer wieder bewusst zu machen, dass auch ohne direkten Kontakt zum Täter oder ohne Reue des Täters, Vergebung möglich ist – und das hebt das „Konzept“ der Vergebung von anderen ab. Die Selbstwirksamkeit kann zurückgewonnen werden. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um den persönlichen Seelenfrieden.
Wie Vergebung wirkt
Sich selbst vergeben (intrapersonell)
Das intrapersonelle Vergeben meint den Prozess, in dem man sich selbst vergibt (self-forgiveness). Hier geht es vor allem um die „Überwindung von Selbstablehnung, Reduktion von Schuld- und Schamgefühlen sowie Selbstbestrafung bzw. Selbstschädigung“. Dafür werden die Verletzungen und Verfehlungen angeschaut, die wir uns selbst und anderen zufügen. Dieser Schritt sei äußerst wichtig, denn die Folgen des „Sich-Selbst-Nicht-Vergebens“ können schwerwiegend sein und zur weiteren Selbstschädigung über Depressionen bis hin zu extremen Schuldwahn führen (vgl. Mavrogiorgou/Juckel, nach Hall und Fincham 2008).
„Auch das langandauernde Vorhandensein von Verbitterungsemotionen, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Wut, Vorwürfen gegen sich und andere, aggressiven Fantasien gegen sich selbst und andere bis hin zu Gedanken an Suizid und auch erweiterten Suizid können eine Indikation für die Vergebungstherapie sein.“ Mavrogiorgou/Juckel 2022
Psychotherapeutische Strategien
Das „sich-selbst-Vergeben“ ist entsprechend ein ganz zentraler Bestandteil psychotherapeutischer Strategien, „(…), um mit negativen, unangenehmen, nagenden Gedanken und Gefühlen von Scham und Schuld adäquater umgehen zu können“ (Mavrogiorgou/Juckel, nach Lammers & Ohls 2017). Bei der Suche nach Methoden zur Vergebung, wird man vielfältig fündig, auch in Bezug auf unterschiedliche spirituelle Elemente, wie aus der buddhistischen oder christlichen Lehre. Die Autoren Mavrogiorgou und Juckel zeigen in ihrem Artikel verschiedene Modelle zur Vergebungsarbeit auf und beziehen sich unter anderem im „Self forgiveness“ Prozess auf U. Kühn. Nach ihm sind die folgenden Phasen wichtig:
- „Klärung der Situation und Bewusstmachen des eigenen Verhaltens in Bezug auf sich selbst oder eines anderen im Rahmen von offenen, emphatischen und wertfreien Gesprächen
- Mediation, Entspannungsrituale, individuell spezifische spirituell-religiöse Praktiken wie z B Beten, Briefe schreiben, Stille Zeiten etc.
- Radikale Akzeptanz der Vergangenheit einschließlich der Verletzungssituationen und Verfehlungen.
- Erkennen von Konsequenzen im Sinne notwendiger Veränderungen. Umsetzen dieser bzw. Integration der zur Verbesserung beitragenden Strategien in den Routinealltag.“
Selbstvorwürfe identifizieren
Im Resilienz Training und Coaching schauen wir uns die inneren Selbstvorwürfe genauer an. Sie bezeichnen wir auch als „Resilienz-Diebe„, da sie uns die innere Kraft rauben und hohen Stress auslösen können.
Die Identifikation von Selbstvowürfen kann im Rahmen von „Seitenarbeit“ oder auch „Teilearbeit“ erfolgen. Der Hintergrund ist, dass ein Selbstvorwurf immer in Verbindung mit einem inneren Konflikt steht. Damit ein Vorwurf auch so richtig schön „knallen“ kann, braucht es eine Seite, die den Vorwurf macht und die Schuld ausspricht. Und es braucht die andere Seite, die den Vorwurf hört, gekränkt wird und sich der Schuldfrage annimmt.
Beide Seiten hängen mit Emotionen wie Angst, Ärger oder Trauer zusammen. Aus diesem Grund nimmt Emotionsregulation einen ganz wichtigen Stellenwert im Resilienz Training ein. Techniken wie das „Kurbeln“ und „Klopfen“ (nach Dr. Michael Bohne), tragen außerdem dazu bei, die Selbstvorwürfe zu identifizieren und gleichzeitig die Selbststeuerung wieder zu aktivieren und das System zu beruhigen.
Anderen vergeben (interpersonell)
Das interpersonelle Vergeben bezieht sich darauf, anderen zu vergeben und gleichzeitig nicht abhängig zu sein von der Anwesenheit des Täters. Das „Verfolgen von Gerechtigkeit“ sei auch unabhängig der Täterseite möglich, weshalb letztlich auch diese Ebene als ein persönlicher Prozess verstanden werden kann (vgl. Mavrogiorgou/Juckel, Hinweise auf Legaree et al., Freedman, Zarifkar).
„Vergebung ist mehr als Akzeptieren und Hinnehmen. Auch die interpersonelle Vergebung ist und bleibt ein intrapersoneller Prozess, man muss nicht unbedingt mit dem Täter in Kontakt treten.“ – Mavrogiorgou/Juckel 2022
Für die Vergebung anderer kann das 4-Phasen Modell nach Enright und Fitzgibbons (2000) als Hilfe dienen:
- Phase: Hier geht es um die Auseinandersetzung mit eigener Verletztheit und Wut („uncovering“, „recalling“). Unter anderem wird der Umgang mit Emotionen betrachtet, Scham- oder Schuldgefühle zugelassen und die dadurch veränderte Weltansicht reflektiert.
- Phase: In der Entscheidung für die Vergebung („decision“) wird erkannt, dass bisherige Bewältigungsstrategien nicht funktioniert haben und eine innere Bereitschaft für den Vergebungsprozess wichtig ist. Hier wird ein „commitment“ beschlossen, dem Täter zu vergeben.
- Phase: Arbeiten am Vergebungsprozess („work“). In dieser Phase geht es darum, unangenehme Gefühle loszulassen und in ein Bewusstsein von Mitgefühl zu kommen. Hier spielt auch die Empathie für den Täter eine Rolle. Methoden wie Reframing (Perspektivwechsel) und zur Akzeptanz spielen hier mit rein.
- Phase: Die letzte Phase ist die Vertiefungsphase, in der „Neues beginnen kann anstelle des Grolls („discovery and release“)“. Gefühle werden bewusster wahrgenommen und angenehme Emotionen bestärkt. In dieser Phase findet die Erkenntnis statt, nicht allein zu sein und dass vielleicht durch die Verletzung „eine neue Lebensaufgabe hervorgegangen ist“. Entsprechend spielt auch das Thema der „Sinnfindung“ hier eine zentrale Rolle. Sinn erkennen in Bezug zu anderen und auf das eigene Leiden.
Das Modell von Enright und Fitzgibbons wird in therapeutischen Gruppensettings eingesetzt, um genau diesen gegenseitigen Austausch über den Vergebungsprozess zu ermöglichen. Mavrogiorgou/Juckel weisen darauf hin, dass für die Therapieschritte ausreichend Zeit eingeräumt werden sollte. Vergebung braucht Zeit und viel Empathie. Entsprechend der Themen sei auch von Seiten der Therapeut:innen und Begleiter:innen eine hohe Sensibilität gefordert.
Wohin Vergebung führt
Im Gegenteil zu anderen Faktoren, die reichlich diskutiert und auch kritisiert werden, scheinen sich bei der Vergebung alle einig zu sein: Durch Vergebung findet die Seele Ruhe.
Seelenfrieden
Vergebung führt nachweislich zu innerer Harmonie und einem Gefühl von Frieden. Gläubige Menschen berichten davon, dass sie durch Vergebung wieder in ein leichteres, erfüllteres Leben finden. Wir müssen nicht, aber wir können uns im Kontext der Vergebung auch mit spirituellen Fragen beschäftigen und in wie weit Schutz- und Risikofaktoren auf unser Seelenleben einwirken. Durch Vergebung werden nachweislich Rachegedanke und Feindseligkeit verringert. Der Umgang mit Emotionen wird verbessert, Ängste gelöst, die „Opferrolle“ verlassen, die Akzeptanz gestärkt. Zudem wird der Selbstwert, die Selbstliebe aktiviert und selbstschädigendes Verletzen im besten Falle gestoppt. Die positiven Wirkungen zeigen eine Vielzahl an Parallelen zu Resilienzfaktoren, die wissenschaftlich erwiesen sind.
Vergebung stärkt vor allem auch den Schutzfaktor Bindung. Menschen verbinden sich, vielleicht nach sehr langer Zeit, wieder miteinander. Im Vergebungsprozess spiele die „Perspektivenübernahme und Empathie des Vergebenden“ eine zentrale Rolle. Wenn Menschen sich selbst vergeben können, sind sie auch eher dazu fähig, anderen zu vergeben. Bedenkt man das Gegenteil – übles Nachreden, Rach- und Vergeltungssucht bis hin zu Vernichtungsgedanken des Täters, dann wird klar, weshalb die psychologische, religiöse und ethische Anstrengung zur Einübung von Vergebung so wichtig ist.
Körperliche Gesundheit
Vergebung führt, wie beschrieben, auch nachweislich zur Stressreduktion und einem verbesserten körperlichen Wohlbefinden. In Studien konnte ein niedrigerer Blutdruck und die Verringerung des Hormons Cortisol festgestellt werden. Außerdem kann „Vergebung (…) zu Linderung körperlicher Schmerzsyndrome führen und eine Chronifizierung verhindern.“ (Hinweise auf Studien u.a. Friedberg et al. 2007, Recine 2015).
Verstehbarkeit
Für unser Gehirn ist es wichtig, Dinge zu verstehen. Darum ist es ratsam, sich mit Vergebung zu beschäftigen und, auch wenn es erst einmal schmerzhaft sein mag, die Themen anzugucken, die möglicherweise ein Stück Vergebung gebrauchen können. Die Wissensvermittlung spielt auch in der Beratertätigkeit eine wichtige Rolle. Wenn Klient:innen wissen, wofür es sich lohnt, zu vergeben und die positiven Wirkungen kennen, sind sie auch eher dazu bereit, ein Commitment dazu zu schließen.
Das „Konzept“der Vergebung ist zwar vorrangig ein Thema der Seele – es verbindet aber die mentale, emotionale und seelische Ebene auf spannende Weise miteinander. Dabei muss es nicht immer um die „großen Themen“ gehen. Fühlen Sie sich an dieser Stelle vielleicht dazu eingeladen, einmal in Ihrem Alltag zu schauen und die „kleinen Dinge“ wahrzunehmen, die ein Stück Vergebung bräuchten – und die Momente zu erkennen, in denen Sie vielleicht ganz automatisch, unbewusst, „selbstverständlich“ Dinge verzeihen oder Menschen wieder zusammenführen.
Denn für eine starke Resilienz ist genau dieser Teil äußerst wichtig. Wahrzunehmen, was bereits alles gut läuft! Wie oft vergeben wir vielleicht, ohne es bewusst zu merken?
„Vergebung ist die höchste Form der Liebe.“ ―Reinhold Niebuhr
Quellen:
- Enright, D.R. 2006: Vergebung als Chance. Neuen Mut fürs Leben finden.
- Depner, M. Vergebung, online unter: www.seele-und-gesundheit.de/spiritualitaet/vergebung.html
- Mavrogiorgou, P. / Juckel, G. 2022: Vergebung und Seelenruhe – ein spirituell-therapeutischer Prozess. Forgiveness and stillness of soul – a spiritual therapeutical process.
- Kuhl, J. 2015: Spirituelle Intelligenz. Glaube zwischen Ich und Selbst.
- Kühn, U. 2020: Sich selbst vergeben können. Diakonie Bethanien. Lammers M, Ohls I (2017) Mit Schuld, Scham und Methode – Ein Selbsthilfebuch.
- Strauss, Konrad 2010: Die heilende Kraft der Vergebung. Die sieben Phasen spirituell-therapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit.
- Bilder: Depositphotos: Two parts of broken wooden heart taped by a patch. Concept of th @ Olegkalina; High angle shot of females holding hands over the table near coffee mugs @ Wirestock; Woman hand cross @ Tiko0305.
Christina Comnick, M.A. Management–Education–Diversity (Sozial- und Gesundheitsmanagement), ist Kooperationspartnerin der Resilienz Akademie und Expertin für „Seelische Resilienz“. Gemeinsam mit Sebastian Mauritz entwickelt sie das Konzept und leitet die dazugehörige Fortbildung. Sie ist Resilienz-Trainerin & Coachin, Antigewalt- und Kompetenztrainerin und setzt sich seit ca. 15 Jahren für die Prävention seelischer Gesundheit und Krisenintervention ein. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Themen: Sinn, Spiritualität, Intuition, Emotionsregulation und Deeskalation. (www.christinacomnick.de)
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 200 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de).