Spiritualität. Ein Schutz- oder auch Risikofaktor?

Warum beschäftigen wir uns mit Spiritualität?

Im Kontext von Resilienz treibt uns stets die Frage an, welche Strategien Menschen nutzen, um Krisen zu bewältigen und vielleicht sogar daran zu wachsen. Spiritualität gilt als ein zentraler Schutzfaktor der Resilienz. Ist Spiritualität aber„nur“ ein weiterer Schutzfaktor zur Krisenbewältigung oder vielleicht doch viel mehr? Nehmen Sie einen Unterschied wahr im Vergleich zu anderen Faktoren wie Akzeptanz, Optimismus oder Lösungsorientierung?

Für uns steht fest, dass Spiritualität eine besondere Aufmerksamkeit erhalten sollte. Wir sprechen hier von einem Schutzfaktor, der mit der Quelle unseres Seins verbunden ist und sich nicht rein durch mentale Fähigkeiten beeinflussen lässt. In unserem Schwerpunkt der „Seelischen Resilienz“ beschäftigen wir uns mit Spiritualität, weil die Ausrichtung auf eine höhere Wirklichkeit, vielen Menschen in Krisen, Halt und Kraft gibt. Besonders Krisen, die in Verbindung mit Krankheit oder Tod stehen, geben Anlass zur Hinterfragung des bisherigen Lebenskonzepts, Werten und Zielen.

Nicht selten berichten Menschen in Notzeiten von spirituellen Erlebnissen, in denen sie eine Berührung erfahren haben, die sie so vorher nicht kannten. Es beginnt eine tiefere Suche, die rein kognitiv nicht erklärt werden kann. Spiritualität kann ohne Frage als eine existentielle Ressource betrachtet werden. Auch auf Grund der Fülle positiver Effekte auf die Gesundheit, die durch Sinnerfüllung im Leben enstehen. Lesen Sie HIER Näheres zum Thema Sinn und Resilienz.

Die Frage, die wir hier heute stellen möchten ist aber: Was passiert, wenn in der spirituellen Sinnsuche der Sinn für die Realität verloren geht? Kann Spiritualität unsere Gesundheit auch auf einer Ebene „angreifen“ oder schaden, anstatt sie zu stärken?

Was bedeutet Spiritualität?

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Das Wort Spiritualität kommt ursprünglich aus dem Lateinischen „spiritus“ und kann mit „Atem, Wind, Geist, Seele“ übersetzt werden.  Aus der christlichen Tradition lässt sich „spiritus sanctus“ auf ein gläubiges Leben aus dem Geist Gottes beziehen. Im Duden wird Spiritualität als „Geistigkeit, inneres Leben, geistiges Wesen“ beschrieben.

Betrachtet man das Antonym, die Materialität, wird deutlich, was Spiritualität alles nicht ist – etwas Messbares, eine stoffliche Substanz, etwas Sichtbares, eine Körperlichkeit. Spiritualität bezieht sich vielmehr auf die feinstoffliche Ebene, die über die Materie und unser augenscheinliches, logisches Denken hinausgeht.

Der Psychologe Prof. Harald Walach beschreibt Spiritualität unter anderem als

„(…)Erfahrung der allseitigen Verbundenheit, aus der sich eine Haltung ergibt, die im Denken, Handeln und Fühlen über die eigene unmittelbaren Motive und Ziele des individuellen Ichs hinausreicht“ (Walach 2011).

Es geht bei Spiritualität vor allem um die individuelle Erlebniswelt. Wie diese letztlich aussieht und mit wem oder was wir dabei Kontakt aufnehmen, ist zu unterschiedlich. Deshalb gibt es auch nicht „die eine“ Definition. Vielmehr sind es Begriffe, die Menschen zuordnen, wie zum Beispiel Transzendenz  (als Überschreiten von Grenzen, des Alltäglichen, Weltlichen), Geistigkeit (z.B. als Haltung, die auf etwas Geistiges ausgerichtet ist) Ganzheit oder Erweiterung des alltäglichen Bewusstseins. Welche Begriffe kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Spiritualität denken?

Wie wird Spiritualität gelebt?

Der Begriff Spiritualität wird im Resilienzkontext häufig mit Religion synonym verwendet, da beide auf etwas Jenseitiges ausgerichtet sind und sozusagen jede Religion spirituelles Leben beinhaltet. Eine genaue Abgrenzung ist schwierig, aber wichtig. Näheres zur Unterscheidung der Konstrukte Spiritualität im Vergleich zur Religiösität können Sie HIER nachlesen.Resilienz Akademie | Spiritualität. Ein Schutz- oder auch Risikofaktor?

Spiritualität als Schutzfaktor

Kurzgefasst kann gesagt werden, dass Spiritualität den persönlichen Glauben und subjektive Erfahrungen der Transzendenz meint. Hier wird der Sinn individuell gesucht und erlebt. Religion (abgeleitet vom Lateinischen Re-ligio=geistige Rückbindung) ist hingegen eher gemeinschaftsbezogen und bezieht sich auf Traditionen und religiöse Praxis wie Gebete, Gebote, Gottesdienste, Rituale, eine Andacht etc.

In der Forschung ist der Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit nicht eindeutig, da hier besonders der Kontext beachtet werden muss. Beispielsweise durch hohe Belastungsfaktoren oder traumatische Erlebnisse, die zu dem Zeitpunkt verarbeitet werden. Wichtig ist, dass die Schutzfaktoren Spiritualität und Religion in Wechselwirkung mit vielen anderen Schutfaktoren stehen, wie positive Emotionen, soziale Beziehungen, Zugehörigkeit, Fürsorge, Optimismus, Hoffnung oder Vertrauen.

Zwar lässt sich Spiritualität als Solches nicht messen – einzelne Parameter dafür aber schon (C. Richter 2021), wie die persönliche Bedeutung von Glauben, Kirchenzugehörigkeit oder auch die (neurobiologische) Wirkung von Gebeten, Mantren oder geistlicher Meditationen.

Spirituelles Leben

In jedem spirituellen Leben wird auf eine Art und Weise Kontakt zu einer höheren Wirklichkeit, einer anderen Dimension aufgenommen und Erfahrungen tiefer Berührung gesammelt. Diese führen zu einem inneren Antrieb, diese Reise weiter zu verfolgen. Interessant ist die Betrachtung, wie Menschen zur Spiritualität überhaupt finden oder sich diese zuschreiben. Die Auseinandersetzung mit Tod und Leben spielt fast immer eine Rolle.

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Es sind letztlich die existentiellen Fragen, die zur Spiritualität führen – oder wohl auch andersherum? Fragen wie: Woher komme ich? Wer bin ich überhaupt und wohin gehe ich? Gibt es eigentlich eine Trennung von Seele und Leib? Und wenn ja, wohin mag unsere Seele gehen, wenn sie sich von unserem Körper löst?

Nun, es bedarf schon eine große Portion Absicht und Achtsamkeit, Fragen wie diesen auszuweichen. Besonders in Notzeiten und Leiderfahrungen zeigt sich unser Bedürfnis, Antworten auf eben diese Fragen zu bekommen. Fragen, auf die wir mit unserem alltäglichen Bewusstsein und linearen, materiellen Denken keine Antworten finden können.

„Der Übergang vom Leben zum Tod ist in essenzieller Weise spirituell und eindeutig nicht physiologischer psychologischer oder sozialer Natur. Viele Patienten im Endstadium kehren zum Glauben und Praktiken Ihrer Kindheit  zurück, während andere nach neuen Formen der Spiritualität suchen.“

Die wissenschaftliche Disziplin „spiritual care“ ist Teil der Paliativmedizin und verbindet die Bereiche Medizin, Theologie und Seelsorge. In Deutschland findet der Bereich immer mehr Anklang, beispielsweise in Forschungsrichtungen, Ausbildungsinhalten oder Schwerpunktsetzungen im psychosozialen Arbeitsfeld. Um schwerkranke Menschen ganzheitlich in spirituellen Fragen zu begleiten, ist spiritual care beispielsweise ein wichtiger Bestandteil der Hospizbetreuung.

Im Kontext von Resilienz gibt es ein spannendes, interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Universität Bonn „Resilienz in Religion und Spiritualität“ unter der Leitung von Prof. Dr. Cornelia Richter. Hier wird eine Verbindung zwischen der Palliativmedizin mit Religion und Spiritualität im Bereich der Resilienenz-Forschung hergestellt. Erfahren Sie Näheres hierzu im Rahmen des diesjährigen Resilienz Kongress 2023!

Spiritualität als Risikofaktor?

Wie spirituelles Leben letztlich praktiziert wird, ist höchst unterschiedlich. Spiritualität ist so alt wie Menschheitsgeschichte. Spirituelle Praktiken lassen sich in ihrem Ursprung zum Schamanismus zurückverfolgen, der ältesten Tradition der Menschheit und entsprechenden mystischen Ausdrucksformen. Immer wieder entstehen auch heute noch neue spirituelle Richtungen, die sich auf alte, schamanistischen Praktiken beziehen. (Hoffmann/Heise et.al. 2017).

Neue Spiritualität

In den letzten Jahren ist eine Bewegung „neuer Spiritualität“ zu beobachten. Im social media Bereich wimmelt es förmlich von Kursen, die zur spirituellen Reise einladen. Hier werden schnell Begriffe durcheinander gewürfelt, Praktiken aus dem Hinduismus, Buddhismus mit vermeintlicher „Persönlichkeitsentwicklung“ verknüpft und verkauft. Besonders in den USA sind spirituelle Praktiken zu einem milliardenschweren Geschäft herangewachsen.

Fakt ist, dass es auch im social media-Bereich eine Fülle hoch qualifizierter Coaches und Trainer:innen gibt, die wissenschaftlich fundiert arbeiten. Und selbstverständlich spricht nichts gegen Yoga, Meditations- oder Achtsamkeitskurse und Impulse zur spirituellen Suche. Gerade im Kontext der Seelischen Resilienz und Stressregulation ist uns das ebenso ein Anliegen.

Wir möchten aber gerne darauf aufmerksam machen, dass es gefährlich ist, wenn eine Lösung präsentiert wird, die keine Lösung sein kann. Wenn vermeintliches Karma-Wissen, Channeling mit geistigen Führern, die Chakren Lehre oder religiöse Gesetzmäßigkeiten (jungen) Menschen als Wahrheit und Wegweiser verkauft werden. Natürlich ist das besonders attraktiv in unsicheren Krisenzeiten. Wenn sich Menschen in Krisen befinden – das Herz offen und die Suche nach Antworten groß ist.

Nicht selten machen sich deshalb auch Verschwörungstheoretiker und radikalisierte Gruppen die Suche nach Sinnhaftigkeit zu Nutze. Sie geben klare Antworten auf die unklare Fragen. Ein Spiel mit richtig und falsch, gut und böse. Spiritualität kann hier leider zu einem Produkt werden. Zu einem Mittel, Menschen für die eigenen Zwecke zu gewinnen.

Spiritismus

Apropos „Channeling“ (englisch=Kanal. In Trance wird hier eine Verbindung zu geistigen Führern aufgenommen). Die Grenzen zum Spiritismus sind häufig sehr schwammig. Wichtig ist, sich der Unterscheidung von Spiritualität und Spiritismus bewusst zu werden und entsprechend zu informieren. Spiritismus wird mit einer Form des Okkultismus und Geisterbeschwörungen verbunden und beschreibt als wissenschaftliche Theorie „außernatürliche“ Vorgänge. Resilienz Akademie | Spiritualität. Ein Schutz- oder auch Risikofaktor?

Nach Michael Deppner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, glaubt ein Spiritist an die Verbindung zwischen sich und übersinnlichen Wesen und an die Übertragung von Botschaften. Er/sie „sieht sich als Medium, als Vermittler zwischen Instanzen, die mit ihm selbst nicht identisch sind“.

Der Kontakt zu Geistwesen wird zu einem festen Bestandteil des Lebens und hat Einfluss auf die Person und ihr Umfeld.

„Je nach Überzeugungstiefe des Betroffenen und Suggestionskraft des abergläubischen Umfelds kann gegebenenfalls von einem induzierten Wahn gesprochen werden.“

Außerdem kann nach Michael Deppner die Beschäftigung mit Spiritismus „(…) Folge narzisstischer oder histronischer Motive sein, weil der vermeintliche Kontakt zu ‚höheren Wesen‘ und ‚mediale Fähigkeiten‘ den Spiritisten aus dem Umfeld hervorheben und so zu einer Stärkung seines Selbstwertgefühls führen.“ (M. Deppner 2019).

Spiritueller Narzissmus

Vorab sei betont, dass Narzissmus ein psychologischer Begriff ist. Durch die komplexen und viele Facetten bedarf es unbedingt einer differenzierten und professionellen Einordnung. Nur  Psychologen und Psychotherapeuten können und sollten hierzu eine Diagnose stellen.

Forschungsbereich

Wir möchten hier kurz auf den Begriff des spirituellen Narzissmus eingehen, da dieser im Rahmen einer Studienreihe von Prof. Dr. Jochen Gebauer (Universität Mannheim) an Bedeutung gewann. Die Forschungsgruppe untersuchte die Wirkung von Yoga und Meditationspraktiken und konnte Zusammenhänge zur Selbstaufwertung aufzeigen. In der Befragung wurde das Selbstwertgefühl nach spirituellen Praktiken erfasst. Die Teilnehmenden zeigten einen „höheren Grad an Selbst-Zentralität“ und gesteigertes Selbstwertgefühl. Laut dem Psychologen und Journalisten Scott Barry Kaufman könnten spirituelle Praktiken (…) also tatsächlich auf Ego-Boosting zurückgehen – nicht auf eine Mäßigung des Egos.“

Laut den Forschungsergebnissen können sich Überlegenheitsgefühle durch spirituelle Praktiken entwickeln, weil Menschen sich mit einer höheren Dimension verbunden fühlen.

„Einige Psychologen haben gezeigt, dass spirituelle Selbstaufwertung zu einem Syndrom führt, dass sie »Ich-bin-erleuchtet-und-du-nicht« nennen. Es handle sich um einen ´spirituellen Bypass´. Spirituelle Überzeugungen, Praktiken und Erfahrungen würden genutzt, um sich den eigenen Problemen nicht stellen zu müssen.“ (Scott. B. Kaufman).

Auch die Forscherin C. Schliesser des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung stellt eine Verbindung zwischen Narzissmus und spirituellen Leben her. Im Kontext von Esoterik und Verschwörungstheorien beschreibt sie Narzissmus als eine Art Scharnier. Durch das Gefühl Eins zu sein mit Gott oder dem Universum, durch Erleuchtungserfahrungen oder Energieheilung können Größenphantasien entstehen.

Die esoterische Idee, mit allem verbunden zu sein, erfülle laut C. Schliesser einen konkreten Zweck: Ohnmacht, Kontrollverlust und Angst auf diese Weise ein Stück erträglicher zu machen. Während Verschwörungserzählungen die Ursache von Problemen in bestimmten Personengruppen suchen, seien es in esoterischen Richtungen eher strafenden Kräfte aus der Natur oder Karma.

Auswirkungen

Im Kontext von Narzissmus können spirituelle Denkweisen die Verhaltensweisen der Person regelrecht beherrschen und sich auf andere Personen übetragen. Wichtig ist hier zwischen narzisstischen Persönlichkeitseigenschaften und einer Persönlichkeitsstörung vorsichtig zu unterscheiden. Ein ausgeprägtes (spirituelles) Selbstbewusstsein oder das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit sind noch kein Narzissmus.

Zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (DSM-IV, ICD 10) zählen vielmehr Kriterien wie Mangel an Empathie, der feste Glaube an die Einzigartigkeit, Drang nach Bewunderung, Arroganz, Kritikunfähigkeit oder Ausbeutung anderer. Es gibt vielseitige Diskurse zur Frage, wie sich letztlich Narzissmus erkennen und einordnen lässt und wo die Grenze zwischen „gesundem“ Anteilen wie das Streben nach Anerkennung und „krankhaften“ Anteilen der Überkompensation verläuft.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie das lesen? Im Kern verbinden wir mit Spiritualität doch vielmehr Authentizität und Tugenden wie beispielsweise Demut und Besonnenheit. Weg von Egozentrik – hin zur Verbundenheit und Fürsorge. Offensichtlich und leicht erkennbar ist spiritueller Narzissmus deshalb mit Sicherheit nicht – vielmehr wohl ein „blinder Fleck“. Sowohl für die Person selbst als auch für die nahestehenden Personen und die Gesellschaft.

Die Frage stellt sich natürlich, was können wir tun, um narzisstischen oder spiritstischen Entwicklungen vorzubeugen? Ein möglicher Schlüssel liegt unseres Erachtens in der Resilienz. Denn eine starke Resilienz zeichnet sich immer auch durch eine gesunden Realitätssinn aus. Lassen Sie uns das im Folgenden näher erläutern.

Wofür ist Resilienz Coaching beim Thema Spiritualität hilfreich?

Im Resilienz Training und Coaching beschäftigen wir uns vor allem mit der Frage, wie wir Menschen dabei unterstützen können, ihre Ressourcen zu erkennen und für die Aufrechterhaltung von Gesundheit zu stärken. Eine „Ist Analyse“ dient dazu, die aktuelle Lebenssituation zu betrachten und sowohl die Schutz- als auch Risikofaktoren zu analysieren.

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Ausgebildete Resilienz Coaches, die über psychologisches und systemisches Wissen verfügen, begleiten Menschen dabei, eine möglichst realistische Sicht auf ihre Situation und ihr Krisenerleben zu erhalten. Ziel ist es immer, die Selbstwirksamkeit im Rahmen des persönlichen Einflussbereiches zu stärken.

Für uns ist hier der Hinweis auf den Unterschied zwischen Coaching und Therapie wichtig. Denn unter professioneller Begleitung verstehen wir auch, die Grenze der Verantwortungsbereiche zu erkennen. Sind beispielsweise Züge einer spirituellen, narzisstischen Persönlichkeitsstörung erkennbar, liegt die Diagnose im Aufgabenbereich eines geschulten Therapeuten – und obliegt nicht dem Auftrag eines Coaches.

Stärken des Kohärenzgefühls

Spiritualität ist vor allem Teil des Coachings im Kontext der seelischen Resilienz. Hier legen wir zum Beispiel besonderen Fokus auf die Intuition, Religion und Sinnfindung. Das Kohärenzgefühl zu stärken (lat. Cohaerere; Zusammenhang, Zusammenhalt) nimmt hier einen wichtigen Stellenwert ein.

Die drei Faktoren der Verstehbarkeit, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit geben Menschen das Gefühl von Stimmigkeit und zeigen auf, wie der Mensch die Welt wahrnimmt und beurteilt. Heute stellt sich durch die Masse an (spiritueller) Informationsflut und Komplexität der Welt umso mehr die Frage, was überhaupt „richtig“ und „falsch“ ist oder wer wir überhaupt sind. Viele versuchen, wie oben beschrieben, vermeintliche Antworten zu geben. Wichtig ist aber vor allem, das eigene Empfinden von Stimmigkeit so gut es geht zu stärken. Denn wenn es gestört ist, führt dies zu einem verzerrten Selbstbild und fehlende Orientierung, was widerum spirituelles „Abdriften“ begünstigt.

Verstehbarkeit

Spiritualität ist letztlich das Gegenteil von Logik und Messbarkeit. Es bleibt immer ein Stück Geheimnis. Etwas, das wir nicht wissen, aber erfahren können. Der Glaube an eine höhere Wirklichkeit ist verbunden mit Erfahrunegn, die in Summe zu einer inneren Gewissheit führen können. Verstehen lässt sich deshalb Spiritualität als Solches wohl eher nicht.

Der spirituelle Weg hingegen schon. Hier denken wir auch an das Thema Bildung und Aufklärung. Um sich vor spiritistischen Strömungen oder Verschwörungstheorien zu schützen, ist es wichtig, entsprechende Informationen einzuholen und sich zu reflektieren. Fragen können sein: Warum bin ich auf der Suche? Was bedeutet Spiritualität? Welche spirituellen Ressourcen haben mir in der Vergangenheit geholfen, Krisen zu bewältigen? Woran bin ich gewachsen?

Machbarkeit

Das spirituelle Leben beinhaltet eine Haltung, die sich nach der Existenzanalyse (nach Prof. Dr. Alfried Längle) zutiefst mit der Sinnsuche auseinandersetzt. Hierdurch werden neue Erfahrungen gesammelt, innere Prozesse angeregt und letztlich, unabhängig von Religion oder Konfession, Einfluss auf die ganze Lebensgestaltung genommen.

Fragen für einen gesunden Umgang mit Spiritualität können zum Beispiel sein: Mit wem kann ich heute über meine spirituellen Erfahrungen sprechen? Wie hilft mir mein Glaube, Stress und Krisen zu bewältigen? Welche Ressourcen benötige ich?

Sinnhaftigkeit

Resilienz Akademie | Spiritualität. Ein Schutz- oder auch Risikofaktor?Spiritualität hängt mit dem Gefühl zusammen, Teil des Ganzen zu sein. Einen Platz auf dieser Welt zu haben. Kein Zufall, sondern gewollt zu sein. Christen sagen: Ich bin ein Gedanke Gottes oder Buddhisten sagen: Teil der Weltseele. Aus welcher Perspektive man auch schauen mag. Ein gesundes Verhältnis zur Spiritualität führt zu einem Gefühl der Verbundenheit und Sinnhaftigkeit, die auf Hoffnung und die Zukunft ausgerichtet ist. Fragen können hier sein: Wohin führt mich mein persönlicher Glaube? Was treibt mich innerlich an? Worin erkenne ich Sinn? Mit wem oder was fühle ich mich verbunden?

Positives Coping

Positives Coping bedeutet, dass Menschen eine vertrauensvolle Gottesbeziehung haben. Sie bitten Gott oder andere Menschen in Krisen um Hilfe. Durch den tiefen persönlichen Glauben entwickeln sie Strategien zur Selbstberuhigung und können von innen heraus neue Kraft zur Bewältigung der Aufgaben schöpfen. Die Verantwortung liegt hier bei der Person und wird nicht abhängig von äußeren Bedingungen oder Gesetzen gemacht.

Im Vergleich dazu entwickeln Menschen im negativen Coping, Gedanken von Strafe oder der Prüfung Gottes. Sie fangen in Krisen an, mit Gott und dem eigenen Glauben zu hadern. Dabei nehmen sie Bezug auf äußere Bedingungen und Gesetze, die ihnen vermeintliche Antworten geben. Die Verantwortung wird hier von sich weggeschoben und Schuld auf andere übertragen.

Spiritualität kann letztlich dann schwierig werden, wenn spirituelle Praktiken als eine Art Werkzeug benutzt werden, um Bedürfnisse (z.B. nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Stolz) zu befriedigen. Auch im Kontext des spirituellen Narzissmus befinden sich Menschen in einer unendlichen Suche nach Bewunderung und einem stetigen Drang nach Erweiterung spiritueller Erkenntnisse, Eigenschaften und Praktiken. Das Paradoxe ist, dass Spiritualität eigentlich die Hinwendung zu sich selbst bedeutet, die hierbei aber gleichzeitig von der Anerkennung im Außen abhängig gemacht wird.

Im Resilienz Coaching geht es deshalb darum, eine gesunde Balance herzustellen und den Weg für einen persönlichen, echten Glauben zu ebnen, der nicht von Außen gesteuert wird. Dazu gehört eben auch, das Leben im Hier und Jetzt zu betrachten, anstatt in andere Dimensionen zu „fliehen“.

Achtsamkeit und spirituelle Begleitung

Spiritualität hat letztlich immer mit unserer Identität und Biographie zutun. Es bedarf gerade hier viel Feinfühligkeit und einen sorgsamen Umgang mit Worten und Taten. Auch in Texten wie diesen, bemühen wir uns, behutsam mit der Sprache umzugehen. Denn es geht hier nicht um Marketing oder messbare Instrumente. Im Themenfeld der Spiritualität und Resilienz handelt es sich um psychologische, theologische und philosophische Fragen, die keine einfache Antwort bereithalten. Vielmehr, und darum geht es, zur persönlichen Selbstrelfexion anregen sollen.

Für eine starke Resilienz ist es deshalb umso wichtiger, in den Austausch mit anderen zu gehen und sich Menschen anzuvertrauen. Besonders während und nach Krisen ist eine Form von Coaching oder Therapie sinnvoll, um in einem seriösen und professionellen Rahmen begleitet zu werden. Denn der spirituelle Weg kann erfüllend, aufregend und im wahrsten Sinne des Wortes bewegend sein. Niemand hat aber gesagt, dass es ein einfacher Weg ist ;-)

Glaubensgemeinschaften, Klöster, Ortsgemeinden basieren deshalb auf dem Gedanken der Verbundenheit. Menschen gerade auf ihrer spirituellen Reise nicht „allein“ zu lassen. Soziale Unterstützung, Vernetzung, Austausch und Struktur, wie es zum Beispiel Gottesdienste bieten, sind auch wichtige Resilienzfaktoren und zentral, wenn Menschen sich in Umbruchphasen befinden und auf der Suche nach einem „neuen“ tieferen Sinn im Leben sind.

Das Vertrauen zu Menschen aufzubauen und die innere, spirituelle Erfahrungswelt zu teilen, kann wichtig sein, um präventiv spirituellen Krisen vorzubeugen. Denn Spiritualität sollte heilsam sein, Wärme vermitteln, uns erden, verbinden, Beziehungen und die Gelassenheit im Umgang mit Problemen und Krisen stärken.

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Quellen:

  • Deppner, Michael: Seele und Gesundheit, Band 1 Diagnosen 2019. Online abrufbar unter: www.seele-und-gesundheit.de
  • Hofmann, Liane/Heise, Patrizia: Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis, Schattauer 2017.
  • Scott B. Kaufmann: Spiritueller Narzissmus: www.spektrum.de/news/yoga-und-meditation-ein-spiritueller-deckmantel-fuer-narzissmus/1938055
  • Richter, Cornelia: An den Grenzen des Messbaren: Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen 2021.
  • Walach, Harald: Spiritualität und spirituelle Krisen, Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis 2011.

Resilienz Akademie | Spiritualität. Ein Schutz- oder auch Risikofaktor?Christina Comnick, M.A. Management–Education–Diversity (Sozial- und Gesundheitsmanagement), ist Kooperationspartnerin der Resilienz Akademie und Expertin für „Seelische Resilienz“. Gemeinsam mit Sebastian Mauritz entwickelt sie das Konzept und leitet die dazugehörige Fortbildung. Sie ist Resilienz-Trainerin & Coachin, Antigewalt- und Kompetenztrainerin und setzt sich seit ca. 15 Jahren für die Prävention seelischer Gesundheit und Krisenintervention ein. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Themen: Sinn, Spiritualität, Intuition, Emotionsregulation und Deeskalation. (www.christinacomnick.de)


Resilienz Akademie | Spiritualität. Ein Schutz- oder auch Risikofaktor?

Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 200 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de).

 

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