Einsamkeit – wahrnehmen und begegnen

Bindung gehört nach Klaus Grawe zu den wichtigsten Grundbedürfnissen von uns Menschen und findet sich in gut allen Resilienzmodellen als zentraler Schutzfaktor wieder. Das Paradoxe: Wir wissen, wie wichtig Bindung für uns ist und trotz der vielen Möglichkeiten und Vernetzung durch soziale Medien fühlen sich Menschen heute isolierter und einsamer als je zuvor. Dieses Paradoxon der Einsamkeit in einer hypervernetzten Welt beschäftigt auch die Forschung und Wissenschaft immer mehr. Wir schauen uns einmal genauer an, was Einsamkeit bedeutet und wie wir ihr begegnen können.

Warum ist es wichtig, Einsamkeit ernstzunehmen?

Einsamkeit ist ein Phänomen, das Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten betrifft. In seiner Essenz signalisiert Einsamkeit einen Mangel an Verbindung und Zugehörigkeit. Das Grundbedürfnis nach Bindung wird hier verletzt und nicht gestillt. Evolutionär betrachtet war die Zugehörigkeit zu einer Gruppe für das Überleben und die Fortpflanzung essentiell. Unsere Vorfahren, die in eng verbundenen Gemeinschaften lebten, waren besser vor Gefahren geschützt und hatten höhere Überlebenschancen.

Heute im digitalen Zeitalter hat sich die Art und Weise, wie wir interagieren und Beziehungen aufbauen, drastisch verändert. Die Ironie des 21. Jahrhunderts ist, dass wir trotz der technologischen Fortschritte, die es einfacher als je zuvor machen sollten, in Kontakt zu bleiben, oft ein tiefes Gefühl der Isolation erleben. Die sozialen Medien, die, nun ja, eigentlich dazu dienen sollten, uns sozial näher zusammenzubringen, haben oft den gegenteiligen Effekt. Sie bieten eine Illusion von Verbundenheit. Gerade junge Menschen leiden dadurch stark, denn die Beziehungen erreichen nicht die emotionale Tiefe und  Erfüllung echter, persönlicher Interaktionen.

Gesundheitsgefährdung für Körper, Geist und Seele

Eine aktuelle Studie aus China bestätigt, dass Einsamkeit das Sterberisiko erhöhen kann, insbesondere bei kranken Menschen. Durch langanhaltende Einsamkeit werden eine Reihe von Gesundheitsproblemen erhöht, darunter Depressionen, Angstzustände und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Menschen mit wenigen sozialen Kontakten hatten in der Studie ein um 22% höheres Risiko, an Krebserkrankungen zu sterben. (Wang et.al. 2023)

Wenn wir weniger soziale Kontakte haben, steigt auch unser Stressniveau. Die Studie (Wang et.al. 2023) basierte auf einer Meta-Analyse von Daten von 2,2 Millionen Menschen und zeigt, dass Einsamkeit und soziale Isolation mit einem erhöhten Stressniveau verbunden sind. Durch Einsamkeit und soziale Isolation kann es zu einer erhöhten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol kommen. Langfristig führt dies zu negativen Auswirkungen auf die Körperfunktionen, wie einem geschwächten Immunsystem und Störungen des Stoffwechsels.

Es zeigt sich: Einsamkeit wirkt sich ganzheitlich auf unsere Gesundheit aus. Es handelt sich hier nicht „nur“ um einen emotionalen Zustand, sondern kann auch erhebliche Folgen auf die körperliche Gesundheit haben. Die Signale unseres Körpers weisen uns deutlich darauf hin, dass uns wichtige Verbindungen fehlen.

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Was ist unter Einsamkeit zu verstehen?

Im Lexikon der Psychologie wird Einsamkeit beschrieben als:

„(…) eine unausweichliche Erfahrung jedes Menschen, die in differentieller Weise aktualisiert, erfahren und erlebt wird und aus dem anthropologischen Spannungsbogen von Individualität und Soziabilität erwächst. Sie stellt die subjektiv negativ bewertete Erfahrung des inneren Getrenntseins von anderen, von sozialen Bindungen und Benötigtwerden, vom eigenen Ich und von subjektiv bedeutsamen Sinnbezügen dar (Lebenssinn).“ Lexikon der Psychologie (spektrum.de)

Faktor: Sinnerfüllung

In der Evolution spielte wie gesagt die Gruppe eine überlebenswichtige Rolle und dieses Erbe wirkt bis heute nach. Die moderne Lebensweise, geprägt von individueller Leistung und digitaler Kommunikation, führt immer mehr zu einem Rückgang direkter, sinnstiftender Interaktionen. Die führende Sinnforscherin Prof. Dr. Tatjana Schnell beschreibt die „Zugehörigkeit“ als eine der Hauptfaktoren für Sinnerfüllung (Schnell 2020). Fehlt es an sozialen Miteinander und Zugehörigkeit, so besteht die Gefahr eines gestörten Kohärenzsinns– und sich „fehl am Platz“ zu fühlen.  Zugehörigkeit und Bindung ist existentiell für unser Gefühl von Stimmigkeit.

Wenn Sie zum Beispiel mal in Ihrem Umfeld fragen, wer oder was für die jeweilige Person eine wichtige „Sinnquelle“ im Leben ist, wird höchstwahrscheinlich eine derr ersten Antworten lauten: Meine Familie/…Kollegin/… mein Partner/… vielleicht auch der Nachbar oder Lieblingsgastronom im Kiez. Gerade im Resilienz Coaching oder Resilienz-Training in Teams, wird die Wichtigkeit von Beziehungen sehr deutlich – denn sie sind es, die uns wesentlich durch Krisen tragen und bei viel Stress für Ausgleich und Regeneration sorgen. Wird der Faktor Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach Bindung auf lange Sicht vernachlässigt, kann dies auch zu fehlender Unterstützung in Krisenzeiten führen. Umso wichtiger ist es, sich schon heute prosilient® auf zukünftige Krisen vorzubereiten und Einsamkeit vorzubeugen.

Wichtig: Alleinsein ist nicht gleich Einsamkeit

Die Forschung unterscheidet vor allem zwischen:

  • subjektiven Gefühl der Einsamkeit
  • objektiver sozialer Isolation

„Einsamkeit ist ein subjektives Phänomen, das vielfältige objektive Bedingungsfaktoren aufweist, jedoch vom physischen Alleinsein und von sozialer Isolation sowie dem positiv erlebten Für-sich-Sein (positiv erlebte Erfahrung der eigenen Individualität, Freiheit, Autonomie und Selbstbegegnung – solitude) unterschieden werden muß.“

Einsamkeit kann entsprechend als subjektives Gefühl und Erleben beschrieben werden, das entsteht, wenn die Qualität oder Quantität unserer sozialen Beziehungen nicht unseren Erwartungen und Bedürfnissen entspricht. Es geht nicht einfach um das Alleinsein an sich – vielmehr handelt es sich um die Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen Beziehungen. Vielleicht kennen Sie das auch: Wir können uns in einer Menschenmenge einsam fühlen, wenn wir keine bedeutsame Verbindung zu anderen spüren. Gleichzeitig können wir auch wunderbar allein Zeit mit uns selbst verbringen und uns durchaus verbunden und erfüllt fühlen, wenn unsere sozialen Interaktionen bedeutungsvoll sind. Dabei kann auch von einer Verbundenheit zu einer höheren Wirklichkeit gesprochen werden. Spirituelle Menschen fühlen sich oft nicht allein, sondern auf einer tiefen Ebene mit der Welt verbunden.

Entsprechend geht es bei Einsamkeit nicht um die physische An- oder Abwesenheit einer Person, sondern vielmehr um das Fehlen einer emotionalen Verbindung und Unterstützung. Einsamkeit kann dabei akut oder chronisch auftreten. Akute Einsamkeit ist oft eine vorübergehende Reaktion auf bestimmte Lebensereignisse. Beispielsweise ein Umzug in eine neue Stadt, der Verlust eines Menschen oder andere bedeutende Veränderungen. Chronische Einsamkeit hingegen ist tief verwurzelt und entwickelt sich über längere Zeit, oft unabhängig von der äußeren Situation.

Einsamkeit-Depositphotos- Resilienz Akademie

Wie können wir Einsamkeit resilient begegnen?

Umfragen zeigen, dass das Gefühl von Einsamkeit in der deutschen Bevölkerung weiter wächst. Beispielsweise zeigte der Gesundheitsreport 2023 der Barmer Krankenkasse, dass sich die Zahl der Menschen, die sich einsam fühlen über die letzten Jahre in Deutschland erheblich zugenommen hat. Umso wichtiger ist es, hierfür zu sensibilisieren und Gefühlen von Einsamkeit zu begegnen. Um besser mit Einsamkeit umzugehen und Ihre Resilienz zu stärken, sind unseres Erachtens 3 Punkte auf ganzheitlicher Ebene wichtig:

  1. Die Ursachen verstehen
  2. Gemeinschaft und Verbindung suchen
  3. Strategien zur Überwindung entwickeln

Körperlicher Check-Up

Unsere Empfehlung ist: Betrachten Sie das Thema Einsamkeit auf ganzheitlicher Ebene! Wir haben dafür das Modell der Vier Arten individueller Resilienz“ entwickelt – denn unserer Erfahrung nach gibt es kaum ein Thema, das wir „nur“ auf mentaler oder körperlicher Ebene betrachten sollten. Alles steht in Beziehung zueinander. Auch beim Thema Einsamkeit zeigt sich, dass ein plötzliches Bedürfnis nach Isolation und Rückzug auch neurobiologische oder hormonelle Gründe haben kann. Es ist deshalb ratsam, sich auch von einem Arzt untersuchen und ein Blutbild oder eine Nährstoffanalyse machen zu lassen. Durch eine ausgewogene Ernährung und Bewegung im Alltag können bereits positive Veränderungen mit Blick auf den Energiehaushalt und die Motivation eintreten.

Verstehbarkeit

Um Einsamkeit zu überwinden, ist es essenziell, sich ihrer Ursachen bewusst zu werden und aktiv nach Lösungen zu suchen. Unser Gehirn möchte verstehen und liebt es vor allem Muster zu bilden. Wenn Sie bei sich oder einer anderen Menschen ein Gefühl der Einsamkeit feststellen, ist es ratsam, sich hierzu Informationen einzuholen. Konkret kann es hilfreich sein, Berichte und Bücher zur mentalen Gesundheit zu lesen, die deutlich machen, wie zum Beispiel unser Organismus auf Einsamkeit reagiert und wie Einsamkeit sich auf unsere Leistungsfähigkeit und auf unser Stressniveau auswirkt.

Sozialer Austausch und Aktivitäten

Versuchen Sie mit einer anderen Person über die Gefühle von Einsamkeit in den Austausch zu gehen und soziale Unterstützung anzunehmen. Wir schreiben bewusst „versuchen“ – denn klar ist: Gerade Einsamkeit zu thematisieren fällt uns nicht leicht und der erste Schritt ist oft der Schwerste. Deshalb kann auch ein Gespräch mit einer „bewertungsfreien“ Person sehr hilfreich sein, wie beispielsweise ein neutraler Coach, eine anonyme Telefonberatung oder auch eine Person aus der Gemeinde. Sich öffnen und ins Gespräch gehen ist wichtig, um neue Wege zu finden, die bei der Überwindung helfen. Welche Faktoren führten zum Beispiel dazu, dass Sie/oder jmd., den Sie kennen, sich immer weiter zurückzieht oder sich einsam fühlt? Was können Sie heute tun, um mehr Verbindung in Ihrem Leben zu schaffen?

Um Einsamkeit vorzubeugen, ist es wichtig, aktiv an der Pflege bestehender Beziehungen zu arbeiten und neue soziale Kontakte zu knüpfen. Dabei können gemeinsame Interessen, Hobbies oder ehrenamtliche Tätigkeiten helfen. Die Nutzung von Technologien sollte bewusst erfolgen, um echte Beziehungen zu fördern, anstatt sich auf oberflächliche Verbindungen zu beschränken. Zudem kann die Reflexion über die eigenen Bedürfnisse, Werte und das bewusste Streben nach Beziehungen die Resilienz gegen Einsamkeit stärken.

Ein kleiner Tipp wäre hier: Etablieren Sie neue Gewohnheiten. Ein Beispiel ist der „8 Minute Call“ . Die Methode stärkt die Bindung, in dem man exakt 8 Minuten mit einer Bezugsperson telefoniert. Nicht mehr und nicht weniger. Die Faustregel könnte hierzu lauten: Kurze Einheiten, dafür regelmäßig! Gerade, wenn es am Anfang schwer fällt, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, lohnt es sich in kleinen Schritten zu denken und Überforderung zu umgehen.

Balsam für die Seele

Nicht zu unterschätzen ist auch die Verbindung zur Natur, Religion oder zu Tieren. Viele Seniorenheime oder Einrichtungen für schwer erkrankte Kinder bieten deshalb Tiertherapie an. Tiere können eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Einsamkeit spielen, indem sie Gesellschaft leisten, emotionale Unterstützung bieten und die Gelegenheit zu körperlicher Aktivität und sozialen Interaktionen schaffen. Die Pflege eines Tieres kann außerdem das Gefühl der Verantwortung und des Zwecks stärken, was besonders bei isolierten Personen positive psychische Effekte haben kann. Die Interaktion mit Tieren fördert Emotionen wie Liebe und Geborgenheit und damit die Ausschüttung von Oxytocin, was zur Reduktion von Stress beiträgt.

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Wozu braucht es mehr Aufmerksamkeit für Einsamkeit?

Einsamkeit ist längst kein Randthema mehr, sondern heute aktueller denn je. In wissenschaftlichen Diskussionen und Forschungsgebieten erhält die Auseinandersetzung mit Einsamkeit immer mehr Raum und wird zunehmend auch in Medienberichten mehr thematisiert. Zurecht – denn die Zahlen sind alarmierend.

Gerade zur Stärkung der seelischen Resilienz ist es notwendig, Risikofaktoren, wie Einsamkeit, wahrzunehmen und zu reflektieren. Hierzu ist auch die Gesellschaft aufgefordert, entsprechende Unterstützung zu leisten. Es braucht mehr Sensibiilisierung und konkrete Unterstützung des Sozial- und Gesundheitssektors, um Menschen vor, während und nach Krisen und Krankheiten vor Einsamkeit zu schützen und auf dem Weg der Regeneration zu unterstützen. Indem wir lernen, Einsamkeit wahrzunehmen und Verbindungen zu pflegen – zu Personen, Tieren, der Natur oder auch in religiöser/spiritueller Form, stärken wir nicht nur unser eigenes Wohlbefinden, sondern tragen auch zu einer gesünderen, resilienteren Gesellschaft bei.

  • Fan Wang, Yu Gao et.al. Nature Human Behaviour (2023): A systematic review and meta-analysis of 90 cohort studies of social isolation, loneliness and mortality.
  • Richter, V.: Einsamkeit erhöht Sterberisiko (2023): Neue Studie: Einsamkeit erhöht Sterberisko – SWR Wissen 
  • Spektrum Wissenschaft: Einsamkeit – Lexikon der Psychologie (spektrum.de); Verweis auf Elbing, E. (1988). „Einsam“ und „allein“, empirische Befunde zum Verständnis zweier Begriffe. Psychologische Berichte und Befunde (PAB), 24, München: Universität.
  • Bildquelle: www.depositphotos.com: Contact between dog paw and human hand@athipati, A young Caucasian woman@veloliza, Asian adult man have pain@Chai2523.

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