„Immer passiert so etwas mir…“; „Nie kann ich…“; „Ich würde ja gern, aber…“. Kennen Sie solche Sätze? Es gibt Situationen, in denen wir das Gefühl haben, die Welt hat sich gegen uns verschworen und wir sind gefangen in der Lage der Dinge. So ein Gefühl wird allerdings problematisch, wenn wir uns an diese Sichtweise gewöhnen und sie auf alles anwenden. Dann nehmen wir eine Opferhaltung an, die nicht nur unsere Selbstwirksamkeit verringert, sondern auch unser gesamtes Wohlbefinden senkt.
Die innere Haltung hat einen großen Einfluss darauf, wie flexibel wir mit Stress und Krisen umgehen können. Verlassen Sie für eine starke Resilienz die Opferhaltung und finden Sie zu mehr Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit.
Was ist eine Opferhaltung?
Eine Opferhaltung hat selten damit zu tun, tatsächlich ein Tatopfer oder ein Katastrophenopfer zu sein. Es geht hierbei vielmehr um die innere Haltung, dem Schicksal ausgeliefert zu sein und keine Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen.
Wie innere Haltungen entstehen
Um zu verstehen, wie es zu einer Opferhaltung kommt – und wie wir sie auch wieder verlassen können – ist es wichtig zu verstehen, wie innere Haltungen generell entstehen. Wir werden nämlich nicht mit einer bestimmten Einstellung zu uns selbst und dem Leben geboren. Wir kreieren uns diese Einstellungen durch die Erfahrungen, die wir machen und die Emotionen, die wir damit verknüpfen.
Durch wiederholte Erfahrungen, die mit einer emotionalen Reaktion verknüpft sind, bildet sich eine bestimmte Erwartungshaltung. Zum Beispiel machen Sie mehrfach die Erfahrung, dass Ihr Beitrag im Teammeeting nicht berücksichtigt wird. Dann werden Sie sehr wahrscheinlich irgendwann aufhören etwas beitragen zu wollen und es kommt zu solchen Glaubenssätzen wie: „Immer werde ich übergangen“ oder „Was ich sage, zählt ja eh nicht“. Erfahrungen von Rücksicht und Anteilnahme hingegen bewirken eine innere Haltung, die zur Beteiligung ermutigt.
Die gute Nachricht ist, auch wenn sich eine innere Haltung erstmal gefestigt hat, bedeutet das nicht, dass sie unveränderlich ist. Das Wichtige dabei ist nur, dass sie sich nicht allein auf kognitiver Ebene verändern lässt. Wir können noch so rational denken, dass der Busfahrer nicht uns persönlich eins auswischen will, wenn wir knapp den Bus verpassen. Dennoch kommt es zur emotionalen Reaktion, beispielsweise Ärger, weil unser Wert Rücksichtnahme verletzt wurde. Und das ergänzt eine innere Opferhaltung.
Charakteristiken einer Opferhaltung
Was zeichnet eine Opferhaltung aus? Es gibt verschiedene Charaktereigenschaften, die Menschen mit dieser inneren Einstellung zeigen.
Die externe Verortung von Kontrolle: Diese Eigenschaft, auch „external locus of control“ genannt, ist eine grundlegendes Element einer Opferhaltung. Im Gegensatz zu dem Schutzfaktor der Kontrollüberzeugung besteht hier die Überzeugung, gar keine eigene Kontrolle über die Folgen von Entscheidungen und Handlungen zu haben.
Schuldzuweisungen: Eine zentrale Charakteristik ist es, Schuld immer von sich zu weisen. Es ist die Überzeugung, dass stets ein Anderer oder das Schicksal für Ereignisse wie z.B. Missgeschicke verantwortlich ist.
Ausreden: Eine weitere Eigenschaft einer Opferhaltung ist das Denken in „eigentlich“-Konditionen. Das beinhaltet die Abhängigkeiten von äußeren Umständen, wie dem Wetter, der Zeit, oder der finanziellen Lage, aber auch von anderen Menschen. Im Sinne von: „Eigentlich wollte ich ja joggen, aber es ist gerade kalt draußen/ mein Laufpartner kann nicht“.
Alles persönlich nehmen: Im Zusammenhang mit den Schuldzuweisungen steht auch die Eigenschaft, Ereignisse konkret auf sich zu beziehen. Das heißt, nicht nur Kritik wird auf die Identität bezogen, sondern auch allgemeine Umstände werden in direktem persönlichem Bezug negativ aufgefasst.
Warum wir gerne in der Opferhaltung verharren
Obwohl eine Opferhaltung mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht einhergeht, fällt es vielen Menschen schwer, sich von dieser Haltung zu lösen und vielmehr eine „Gestalterhaltung“ anzunehmen. Das liegt wohl daran, dass es auch gewisse Vorteile mit sich bringt, sich stets als Opfer der Umstände zu betrachten. Diese Vorteile sind zum Beispiel:
- Im Recht sein: Die Opferhaltung bringt mit sich, emotional im Recht zu sein und sich dadurch dem Kontrahenten moralisch überlegen zu sehen. Das geht auch damit einher, Solidarität und Beistand von anderen zu bekommen, schließlich geschieht einem ja gerade Unrecht.
- Zuspruch und Anteilnahme: Eine Opferrolle soll jedoch von anderen nicht nur solidarischen Zuspruch, sondern auch Mitleid und vor allem Aufmerksamkeit einbringen. Wir bekommen eine Form der Zuneigung dadurch, dass wir unschuldig in schlimme Situationen geraten – und suchen uns daher auch eher Menschen, die eher mit in unser Klagelied einstimmen, statt aktiv aus der Situation helfen zu wollen.
- Keine Verantwortung: In einer Opferhaltung sind uns „die Hände gebunden“. Das heißt auch, dass wir keine Verantwortung für Geschehnisse übernehmen oder Entscheidungen dadurch erst gar nicht treffen. Denn die Kontrolle über mögliche Folgen wird stets nicht bei sich selbst verortet.
- Bequemlichkeit: Und nicht zuletzt, wenn wir ehrlich sind, so eine Opferhaltung ist auch sehr bequem. Denn das Leben selbst zu gestalten erfordert Aktivität und den Weg aus der Komfortzone heraus. Da diese Haltung den Glauben mit sich bringt, eh nichts ändern zu können, lohnt sich die Mühe gar nicht erst, es auch gar nicht erst zu versuchen.
Die Nachteile einer Opferhaltung
Es hat durchaus Vorteile in einer Opferhaltung zu verharren. Jedoch bringt diese innere Einstellung auch große Nachteile mit sich. Denn unsere inneren Haltungen haben einen enormen Einfluss einerseits auf unsere weiteren Gedanken und andererseits auf unseren Körper. Wir ziehen uns mit einer Opferhaltung im Grunde genommen in eine negativ Spirale nach unten.
Eine ausgeprägte Horrorszenario-Kompetenz
Wie geht es Ihnen wohl, wenn Sie immer gleich vom Schlimmsten ausgehen? Und wie phantasiereich malen Sie sich das Schlimmste dann aus? Die Bilder, die wir in unserem Kopf erzeugen, haben eine enorme Macht auf unser Denken, Handeln und Fühlen. Zum Beispiel sind Sie Neuem gegenüber sehr viel skeptischer, wenn Sie eine ausgeprägte Horrorszenario-Kompetenz besitzen. Das bedeutet auch, dass Ungewohntes deutlich mehr Stress hervorruft.
Mit einer Opferhaltung neigen wir dazu, innere Bilder zu verzerren und Probleme so beispielsweise in unserer mentalen Welt sehr viel größer zu machen. Im Grunde ist eine Opferhaltung somit die Bewältigungsstrategie auf diese übergroßen und übermächtigen Probleme unseres Alltags zu reagieren.
Geistiges Wiederkäuen
Mit einer Opferhaltung neigen wir nicht nur dazu, uns Katastrophen vor dem geistigen Auge abzuspielen. Wir lassen den gleichen Film in allen möglichen Variationen auch immer wieder laufen. Dieses geistige Wiederkäuen, oder auch Ruminieren, sorgt dafür, dass wir der Negativ-Schleife nicht entkommen können. Die unangenehmen Emotionen, die mit den inneren Bildern verbunden sind, sind somit auch in Dauerschleife präsent.
Generalisierungen und Annahmen
Die innere Haltung, selbst keine Kontrolle zu haben, birgt zudem zwei mentale Modelle. Erstens neigen wir mit dieser inneren Einstellung zu Generalisierungen, besonders immer, nie, alle und niemand. Gedanken wie: „Immer haben die anderen mehr Glück“ oder „Niemand versteht mich“ sind solch typische Generalisierungen.
Da hinzu kommen Annahmen über die Gedanken anderer. In Kombination mit der Eigenschaft, Dinge persönlich zu nehmen, kommt es in der Opferhaltung auch zu solchen Gedanken, wie: „Sie reden alle über mich“, ohne tatsächliche Hinweise darauf. Das fördert besonders in der Interaktion mit anderen Misstrauen und Missverständnisse.
Sich Kleinmachen
Wir machen uns bei einer Opferhaltung in zweierlei Hinsicht klein: mental und körperlich. Glaubenssätze haben eine enorm starke Wirkung, nicht nur darüber wie wir denken und fühlen, sondern auch auf unseren Körper. Solch innere Überzeugungen wie „Alle sind gegen mich“ bringen uns mental in einen Tiefstatus. Wir machen uns geistig klein und schützenswert als Strategie, um die oben genannten vermeintlichen Vorteile zu genießen.
Wir machen uns damit allerdings auch körperlich klein. Eine Opferhaltung spiegelt sich auch in der Körperhaltung wider. Oft erkennen wir schon an der Haltung eines Menschen, ob dieser gerade denkt „Ich arme Sau“ oder „Ich schaffe das“. Besonders die Schultern und die Kopfhaltung sind Indizien für eine innere Haltung.
Aus der Opferrolle in eine Gestalterhaltung
Die Opferhaltung ist eine Strategie, die wir im Laufe unseres Lebens aufgrund unserer Erfahrungen entwickelt haben, um uns vor Stress, Enttäuschung und Verletzung zu schützen. Der gravierende Nachteil dabei ist, dass diese Annahme trügt. Stress löst sich nicht, indem wir einfach aufhören Verantwortung für unsere Handlungen zu übernehmen und Schuldzuweisungen an andere Menschen oder höhere Mächte machen. Obwohl wir uns durch die innere Haltung Nähe und Zuspruch erhoffen, führt diese Einstellung zum Leben besonders im Arbeitskontext zu Konflikten und weiterem Stress.
Die Lösung dafür, sich selbst als Gestalter des eigenen Lebens zu betrachten und unabhängig von äußeren Einflüssen das eigene Glück und Wohlbefinden zu stärken, ist die Selbstwirksamkeit. Selbstwirksamkeit ist ein zentraler Resilienzfaktor, der die Gesundheit und das mentale Immunsystem gegen Probleme, Stress und Krisen stärkt. Für eine starkes Erleben von Selbstwirksamkeit spielen zwei Faktoren eine zentrale Rolle: Selbstreflexion und Eigenverantwortung.
Mit Selbstreflexion die Opferhaltung verlassen
Selbstreflexion ist eine der sieben Säulen der Resilienz und die Voraussetzung dafür, die innere Haltung zu verändern. Wie bereits erwähnt, lässt sich eine Opferhaltung nicht rein kognitiv verändern. Es braucht zunächst die Einsicht, dass man sich selbst die Opferrolle gibt. Für eine geschärfte Selbstwahrnehmung der eigenen Haltung hilft allein schon die Frage: Wo sehe ich die Kontrolle über Geschehnisse in meinem Leben – generell bei mir oder bei anderen/ dem Kontext? Zudem hilft es, auf die eigenen Sprachmuster zu achten und nur mal wahrzunehmen, wie oft so Worte wie „immer“ oder „nie“ auftauchen.
Der nächste Schritt in Richtung Selbstreflexion und damit Selbstwirksamkeit ist der Wille zur Veränderung. So banal das auch klingt, so wichtig ist es. Wenn Sie feststellen, sich oft in eine Opferhaltung zu begeben, jedoch kein Problem damit haben, werden Sie wenig daran setzen in eine Gestalterhaltung zu kommen. Die Motivation, die Kontrolle über das eigene Leben übernehmen zu wollen, ist ausschlaggebend für eine Veränderung.
Eigenverantwortung übernehmen
Und eine Veränderung gelingt nur dann, wenn wir anfangen Verantwortung für die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen zu übernehmen. Verantwortung darüber, wenn etwas nicht so gut läuft nicht immer alle anderen schuld sind. Aber auch Verantwortung darüber, wenn etwas gut läuft, dies unser eigener Verdienst ist.
Eigenverantwortung bedeutet, nicht jemand anderen die Knöpfe der eigenen Gefühlsfernbedienung drücken zu lassen. Es bedeutet, Entscheidungen zu treffen mit den dazugehörigen Folgekosten zu akzeptieren. Keine Entscheidung zu treffen ist dabei übrigens auch eine Entscheidung.
Wozu es wertvoll ist die Opferhaltung zu verlassen
Der Weg zu einer starken Selbstwirksamkeit lohnt sich. Denn so erfahren Sie echte Selbstbestimmung. Sie hören auf sich selbst zu bestrafen, zu bemitleiden oder zu begrenzen. Ihnen steht dann wieder die Möglichkeit offen, Ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Dieses Gefühl stärkt Sie in stressreichen Zeiten und erhöht damit Ihre Resilienz. Besonders in Krisenzeiten, deren Verlauf sich Ihrem Einfluss entzieht, fühlen Sie sich nicht machtlos und ausgeliefert. Sondern Sie begegnen kraftvoll den Herausforderungen und stärken damit Ihre mentale und physische Gesundheit.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).
ich bin opfer von verschiedenen Personen viele Personen ich worden geschlagen und gezwungen zum arbeiten plus Erpressung dazu
Wie ist das mit dem geistigen Widerkäuen wenn man das immer nach einem Trigger macht, der aus einem kindlichen Trauma kommt?
Gerade bei frühen Traumata entwickeln Menschen häufig eine Opferhaltung. Das Trauma ist schon lange vorbei, die Opferhaltung bleibt und wurde auf viele Bereiche des Lebens ausgedehnt. Das ist äußerst ungesund. Aber jeder trägt auch die Verantwortung für die eigene (mentale) Gesundheit. Es liegt an jedem Selbst, das Trauma hinter sich zu lassen oder (ein Leben lang) darin zu verharren.