Das Seitenmodell (nach G. Schmidt) – Hintergrund und Wirkung für mehr Resilienz

Ja, wer kennt sie nicht? Diese zwei Seelen, Ambivalenzen oder auch „Zwickmühlen“, die wir haben, wenn eine Entscheidung ansteht, wir aber nicht wissen, wofür wir uns bloß entscheiden sollen!? Wir fühlen uns hin und her und hin- und hergerissen. Punktuell ist das auch nicht weiter schlimm. Schwierig wird es, wenn die inneren Ambivalenzen über einen langen Zeitraum andauern und Konflikte entstehen. Zwickmühlen können chronischen Stress verursachen, wenn wir ständig das Gefühl haben, einer Seite nicht gerecht zu werden oder nicht wissen, wie wir unsere Bedürfnisse kommunizieren sollen.

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Faust)

Das Seitenmodell bietet eine gute Möglichkeit hiermit besser umzugehen. Erfahren Sie in diesem Text, warum das so ist.

Warum arbeiten wir mit dem „Seitenmodell“?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Straßencafé und hören Sätze wie: „Eine Seite in mir ist gerade echt wütend.“ oder „Da gibt es so eine Seite in mir, die sich im Stich gelassen fühlt“. Nun, zugegeben, wenn Sie solche Sätze mithören würden, wären Sie wohl zu Recht leicht irritiert. – Außer (!) Sie haben schon einmal von dem „Seitenmodell“ gehört und wissen, wie hoch effektiv und heilsam diese Art des inneren Dialogs sein kann. Für eine resilientere Kommunikation mit sich selbst und in zwischenmenschlichen Beziehungen jeglicher Art.

Resiliente Kommunikation

Denn nach dem Konstruktivismus (Theorie der Entstehung von Wissen und der Wahrnehmung) erschafft jeder Mensch seine eigene Realität – eine innere Welt, die sich aus den persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen zusammensetzt. Das bedeutet auch, dass wir nie mit „der einen“ Person gegenüber kommunizieren, sondern immer nur mit einer Seite, die uns gerade gezeigt wird und die wir gerade wahrnehmen. Wenn wir uns das bewusst machen, erscheint ein Gespräch plötzlich in einem ganz anderen Licht. Und so einige Missverständnisse, Stress und persönliche Krisen können damit verringert oder sogar vermieden werden.

Raum schaffen

Für eine gute Beziehungsgestaltung und Bindung brauchen wir also immer auch ein gutes Stück Flexibilität und Perspektivwechsel. Eine Art Raum, in dem wir inneren Abstand gewinnen und die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten können. Nach Dr. med. Gunther Schmidt, Entwickler der „Hypnosystemik“ ist es wichtig, dass wir das, was Leid auslöst, auf Distanz bringen. Dafür gibt es verschiedene „Abstand schaffende Techniken“ – und eine davon ist das Seitenmodell (oder auch „innere Teilearbeit“).

Dr. Gunther Schmidt ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Leiter des Meihei, ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der sysTelios-Privatklinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung in Siedelsbrunn. Er gilt international als einer der maßgeblichen Pioniere in der Entwicklung einer Integration systemischer (auch familientherapeutischer) Modelle und der kompetenzfokussierenden Konzepte Erickson’scher Hypnotherapie zu einem ganzheitlich-lösungsfokussierenden Konzept für Beratung und Psychotherapie. Die von ihm entwickelten hypnosystemischen Modelle für Organisationsberatung, Team- und Gruppenarbeit und Coaching tragen wesentlich zu einem intensivierten ressourcenorientierten Beratungsverständnis bei und sind auch in den Ausbildungen der Resilienz-Akademie in den Lehreinheiten integriert.

Lassen Sie uns in diesem Artikel das Seitenmodell einmal näher betrachten und Ihnen einen Einblick geben, wie wir es in der Coachingarbeit anwenden, um die Resilienz zu stärken.

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Was steckt hinter dem Seitenmodell?

Das Seitenmodell nach G. Schmidt ist eine Methode aus der Hypnotherapie oder genauer gesagt der „hypnotherapeutischen Teiletherapie“, die wir zum besseren Verständnis als Erstes einmal beleuchten.

Hypnotherapie

Die Hypnotherapie ist eine Therapieform, in der Trance und Suggestion Anwendung finden und (Tiefen-)Entspannungsübungen gelernt werden. In der psychologischen Praxis wird sie zum Beispiel bei Angstzuständen, Stress, physische Schmerzen und auch traumatische Erfahrungen eingesetzt. Besonders zur Stärkung der Resilienz bietet sich die Hypnotherapie an, da sie positive Veränderungen im Denken, Verhalten und in der Wahrnehmung ermöglicht und den Umgang mit Belastungen und (schweren) Krisen erleichtert.

Da die Verbindung mit dem Unterbewusstsein in der Hypnotherapie eine zentrale Rolle spielt, können Ressourcen aktiviert und bewusst gemacht werden und zu einem besseren Verständnis für die eigenen Stärken und Fähigkeiten führen. In der Seitenarbeit lernt eine Person, die eigenen Bedürfnisse und Emotionen besser zu wahrzunehmen und zu verstehen und diese zu kommunizieren.

Wirkfaktoren in der hypnotherapeutischen Teiletherapie (nach Dr. J. Peichl 2023)

Jochen Peichl, Jenseits der therapeutischen Beziehung_Buchcover

Dr. Jochen Peichl stellt in seinem neuen Buch „Jenseits der therapeutischen Beziehung: Was wirkt in Hypnotherapie und hypnotherapeutischer Teiletherapie? (Hypnose und Hypnotherapie)“ zentrale Wirkfaktoren für die hypnotherapeutische Teiletherapie vor.

Grund dafür ist, dass er sich auf Spurensuche zu den Wirkfaktoren begeben hat, die neben der „therapeutischen Beziehung“ für die Wirksamkeit einer Psychotherapie relevant sind. Dabei gibt er einen Einblick in aktuelle Forschungsansätzen, die über die Wirksamkeit von Psychotherapie Aufschluss geben und verbindet diese mit der hypnotherapeutische Praxis.

Allgemeine Wirkfaktoren

Diskussionsgrundlage sind u.a. die fünf Wirkfaktoren von Klaus Grawe, die als Merkmale für Therapien mit besonders guter Wirkung beschrieben werden (vgl. Grawe 2005):

  1. Ressourcenaktivierung (Ressourcen wahrnehmen und für das therapeutische Vorgehen nutzen)
  2. Problemaktualisierung (Probleme, die verändert werden, erfahrbar gemacht und erlebnismäßig aktualisieren, zum Beispiel durch Imaginationsübungen)
  3. Problembewältigung (Unterstützung der Klient:innen bei der Klärung des Problems)
  4. Motivationale Klärung (Bewusstsein über das Problemerleben und Verhalten schaffen)
  5. Therapiebeziehung (Qualität der Therapiebeziehung)

„Unumstritten ist die Qualität der therapeutischen Beziehung von großer Bedeutung, nur, der größerer Teil der oben beschriebenen Wirkfaktoren muss über die Auswahl therapeutischer Techniken geleistet werden.“ (Peichl 2023)

Spurensuche

Entsprechend untersuchte Jochen Peichl weitere Wirkfaktoren aus unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen und schenkt in seinem Buch unter anderem der Teiletherapie besondere Aufmerksamkeit.

Dr. Jochen Peichl ist Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Neurologie mit einer Vielzahl an Weiterbildungen. Bis Ende 2010 war er als OA in der Klinik für Psychosomatik am Klinikum Nürnberg tätig. Er ist Gründer und Leiter des Instituts für hypnoanalytische Teilearbeit und Ego-State-Therapie (Schwerpunkte: somatoforme Störungen, Borderline – Störungen, traumaassoziierte Störungen) und heute mit eigener Kassenpraxis als Trainer für Ego-State-und Traumatherapie tätig.

4 Wirkfaktoren hypnotherapeutischer Teiletherapie

Im Folgenden beschreiben wir die Wirkkonzepte, die J. Peichl aus den Wirkkonzepten von Michael Harrer (2008) herausgefiltert hat, da diese nach seiner Auffassung besonders wichtig sind in der Teiletherapie.

1. Lenkung der Aufmerksamkeit

Dieser Punkt schließt den Kerngedanken des Konstruktivismus mit ein. Wie eingangs beschrieben, erzeugen wir selbst unser Erleben (wie nehmen wir Informationen wahr? Wie sehen wir die Welt?). Dies geschieht durch unsere „Aufmerksamkeitsfokussierung“ (G. Schmidt), also der Frage, worauf wir unsere Aufmerksamkeit legen. J. Peichl beschreibt diese auch als „Selbstorganisierte Form des assoziativen Zusammenfügens von sinnlichen Erlebniselementen“.

 “Cells that fire together wire together and when they wire together they fire together” („Hebb´sche Gesetz“, Gunther Schmidt 2022)

Das „Hebb´sche Gesetz“ bedeutet übersetzt so viel, wie: Zellen die miteinander feuern, vernetzen sich und wenn sie miteinander vernetzt sind, dann feuern sich auch wieder miteinander“. Die Annahme besteht hierbei, dass „einzelne Elemente einer emotional geladenen Erfahrung sich zu einem neurophysiologischen Erlebnsnetzwerk verbinden, was wir auch als „Ich Zustände“ bezeichnen können.“ (Peichl 2023). Wir bilden ständig „willkürlich oder unwillkürlich“ Muster (neue Verbindungen und Verkopplungen), die unser Erleben beeinflussen:  Dieses Erleben wird nach G. Schmidt auf allen Sinnesebenen erzeugt.

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Folgende Elemente können Teil eines Erlebnisnetzwerkes sein:
  • Ort, Zeit
  • Beteiligte
  • Beschreibung, Benennung
  • Erklärung, Bewertung, Schlussfolgerung
  • Empfindungen, Emotionen
  • Atmung
  • Gestik, Mimik, Körperkoordination
  • Alters-, Größen-, und Raumerleben
  • Innere Dialoge
  • Umgang mit sich selbst
  • Metaphorik
  • Innere Filme (vgl. Schmidt 2005)

Die Frage ist, welches Element gerade im Fokus steht und „(…) mit welchen Erlebnisnetzwerken man gerade assoziiert und mit welchen man gerade dissoziiert ist“ (Peichl 2023). Je nachdem variiere auch das Erleben und die Wahrnehmung der Welt. Diese „Aufmerksamkeitslenkung“ sei nach Peichl auch in Tranceinduktionen ein zentraler Wirkfaktor, beispielsweise durch die „Affektbrücke“ nach Watkins (1997). Diese kann als assoziative Verbindung eines Reizes zwischen einem Ereignis und einer (in der Vergangenheit erlebten) Emotion verstanden werden.

2. Ressourcenaktivierung und Kompetenzfokussierung

Ein weiterer zentraler Wirkfaktor der hypnotherapeutischen Teiletherapie ist der Fokus auf die Ressourcen. Hier werden die Ressourcen und Fähigkeiten, die der/die Klient:in mitbringt, nicht nur wahrgenommen, sondern bewusst gewertschätzt und bestärkt. Dr. Gunther Schmidt ist ein wahrer „Meister“ in der Fokussierung auf Ressourcen und Kompetenzen. Schauen Sie sich beispielsweise ein Interview im Resilienz-Kongress 2023 an oder Coachingsessions und Vorträge von ihm, die online verfügbar sind.

„Die Potenzialhypothese nach Gunther Schmidt (2004) geht entsprechend davon aus, dass in praktisch allen Fällen die Grundkompetenzmuster, die für eine gesunde Lösung von psychischen, psychosomatischen und/oder interaktionellen Problemen verwendet werden, im Erfahrungsspektrum der Beteiligten – oft nur als unbewusstes Wissen – gespeichert sind.“ (Peichl 2023) 

In der Integrativen Coachingausbildung (IHK) oder Ausbildung zum/zur Resilienz-Trainer:in  (IHK) der Resilienz-Akademie ist die „Ressourcenaktivierung und Kompetenzfokussierung“ ein fester Bestandteil der Lehrmodule. Durch die Fokussierung auf Ressourcen und Kompetenzen wird der Selbstwert und die Selbstwirksamkeit von Menschen gestärkt, um zum Beispiel neue Lösungen zu finden, Ziele zu erreichen und Krisen zu bewältigen.

3. Vermittlung neuer Erfahrungen

Wenn die Problemaktualisierung erfolgt ist, kommt es zur „Veränderung der Selbstorganisation durch korrigierende Neuerfahrung“. J. Peichl bezieht sich in seiner Zusammenfassung erneut auf Grawe (1998) und beschreibt, dass wir Menschen dazu neigen „jeglichen Kontext immer nur im Sinne der Bestätigung unserer Vorannahmen (dysfunktionale Schmata) wahrzunehmen.“  Die Umfokussierung, wie sie im Seitenmodell stattfindet, und der entsprechende Perspektivwechsel sei notwendig, wenn wir neue Dinge lernen möchten. Dafür müssen die „problemrelevanten neuronalen Netze“ aktiviert sein. Veränderung könne nur da entstehen, wo auch „emotionale Betroffenheit“ ist.

Es gehe letztlich darum, unterschiedliche Seiten, Aspekte und Anteile der Persönlichkeit zu integrieren. Und das passiere durch „synergistische Aktionen“, die dem „Individuum mehr Freiheitsgrade und Entwicklungspotentiale ermöglichen.“ (Peichl 2023).

Das Seitenmodell – ein praktischer Einblick

Nachdem wir nun geklärt haben, woher das Seitenmodell kommt und warum es so wichtig ist, schauen wir jetzt, wie das Ganze in der Praxis aussehen kann.

Der innere Dialog

Sie können sich gleich einmal fragen: Wie reden Sie eigentlich mit sich selbst und welche Wirkung hat das? In der Regel sprechen wir, gerade wenn der Stress hoch ist oder sich eine Krise anbahnt, nicht gerade friedvoll und wohlwollend mit uns selbst. Vielmehr ist das harte Gegenteil die Regel. Sätze wie „Ich bin so blöd. Ich bin nicht gut genug. Ich werde das nicht schaffen“ etc. kreisen in unserem Kopf und fangen an, uns zu bestimmen und vielleicht sogar in der Handlungsfähigkeit zu lähmen.

Dieses „Ich- Ich – Ich“ hat eine große Macht. Nach G. Schmidt springen wir durch die „Ich-Form“ hinein in das Erleben. Wenn Sie sich so richtig schlecht fühlen wollen, folgen Sie unbedingt diesen Regeln:

  • Denken Sie an ein Problem
  • Sagen Sie sich immer wieder: „Ich bin (…so blöd).. Ich bin.. (so wütend).. Ich bin.. (so hilflos)…“
  • Nehmen Sie eine Körperhaltung ein, die Sie schrumpfen und niedergeschlagen aussehen lässt. Vielleicht mit herunterhängenden Schultern und abgesenkten Kopf…
  • Verharren Sie in dieser Haltung noch ein wenig und beobachten Sie, was passiert. ;-)

Bitte verstehen Sie hier an der Stelle diesen Hauch an Ironie. Denn die große Frage ist natürlich: Welche Wirkung hat eine solche Haltung auf Ihr Problem-Erleben? Es geht darum, sich bewusst zu machen, dass Sie Einfluss haben und etwas tun können, um Ihren Zustand zu verändern.

Embodiment

Resilienz Akademie | Das Seitenmodell (nach G. Schmidt) - Hintergrund und Wirkung für mehr ResilienzDas „Embodiment“ (Verkörperung) ist auch in der hypnotsystemischen Arbeit ein wichtiges Element und kann die Seitenarbeit unterstützen. Es geht  darum, sich das Zusammenspiel zwischen Körper, Psyche und Umwelt bewusst zu machen. Alles, was wir erleben und erfahren, wird sowohl im Großhirn gespeichert als auch in unserem gesamten Körper, bzw. in den Zellen gespeichert. Übungen aus dem Emobidment zielen entsprechend darauf ab, die körperliche Verfassung wahrzunehmen und durch veränderte Körperhaltung, Gestik und Mimik, das Wohlbefinden und damit die Stimmung zu verbessern.

Bedürfnisse und Emotionen

Wenn es einem schlecht geht schrumpft man automatisch. Äußerlich und innerlich. Wie alt fühlen Sie sich zum Beispiel, wenn es Ihnen schlecht geht? Wir erleben uns nach G. Schmidt häufig als Wesen in einer anderen Welt, vielleicht plötzlich als eine jüngere Version von uns selbst, auch wenn rein rational doch alles wie immer und in Ordnung scheint. Für die „leidende Seite“ ist es aber ganz anders, denn diese nimmt eine Situation möglicherweise als Bedrohung wahr.

Das Wichtige ist: Gerade diese „leidende Seite“ gibt uns Aufschluss über wichtige Werte, Emotionen und Bedürfnisse. Nach G. Schmidt sind leidvolle Prozesse, gerade in einer Krise „Botschafter für wichtige Bedürfnisse“ und zeichnen die „Feedbackkompetenz“ von Menschen aus. Durch sie erhalten wir Informationen über das, was uns selbst oder unserem Gegenüber gerade wirklich wichtig ist. In dem diese „leidvolle Seite“ angeschaut und nicht ignoriert wird, können wir lernen, uns besser in uns hineinzufühlen und Emotionen (beispielsweise die Wut oder die Trauer) zu verstehen.

Dr. Stefanie Neubrand hat hierzu auch die „Impathie“ entwickelt und spricht von der Seitenarbeit, die es ermöglicht eine „Ich Perspektive“ einzunehmen. „In dem Moment, in dem ich die Aufmerksamkeit auf mich selbst lenke, gibt es ein „Ich“ (erlebtes Subjekt) und „Mich“ (wahrnehmbares Objekt).“ Lesen Sie HIER mehr dazu.

Anteilnehmende, liebevolle Haltung

Eine „anteilnehmende, liebevolle Haltung“ einzunehmen ist nach G. Schmidt zentral. Bereits dieser Schritt, sich überhaupt einmal liebevoll (wieder) anzuschauen und wohlwollend mit sich selbst zu sprechen, gibt das Gefühl von Handlungsfähigkeit zurück, das oft gerade in schweren Krisen oder Ohnmachtsgefühlen abhanden gekommen ist.

Eine einfache Möglichkeit für den inneren Dialog ist zum Beispiel schon, mit sich in „dritter Person“ zu sprechen und sich selbst imaginär mal auf einen Stuhl gegenüber zu setzen. Wenn man sich dann vor sich so sitzen sieht, beginnt man, mit viel Mitgefühl (nicht Mitleid) zu sich zu sprechen und die „leidende Seite“ verstehen zu wollen.  

Unterschiedsbildung

Bei allen Interventionen ist hilfreich, Unterschiede wahrzunehmen. Die Unterschiedsbildung, zum Beispiel mit Hilfe der Skalierung, ist auch in unseren Resilienz-Coachings und Trainings zentral, um die eigene Erfahrungswelt und den Blick zu erweitern und die Wahrnehmung zu schulen. Beispiele hierfür wären:

  • Wie hoch ist der Stress/das Problem auf einer Skala von 0-10? Wie ist es nach der Übung?
  • Welche Kompetenzen und Ressourcen haben mir in einer Krise in der Vergangenheit geholfen und wie ist es jetzt?
  • Welchen Unterschied würde es machen, wenn Sie, mit Blick Ihr Anfangsproblem, eine andere Körperhaltung einnehmen würden und sich aufrichten? Vielleicht verbunden noch mit ein paar tiefen Atemzügen und einem kleinen Tanz? ;-)

Wie kann das Seitenmodell im Coaching eingesetzt werden?

Im Folgenden beschreiben wir Ihnen eine Übung des Seitenmodells von  Dr. G. Schmidt „zur Nutzung multipler „,Strömungen“/ Haltungen/ „Seiten“ (Kurz-Version, © Dr. G. Schmidt, Fortbildungsunterlagen 2022)

Stellen Sie sich vor, Sie wären Coach und beginnen mit einer Klientin zu arbeiten:    

Problem-Erleben

1. Im ersten Schritt laden Sie Ihre Klientin dazu ein, das „belastende Problem-Erleben“ zu beschreiben. Wichtig ist, nach G. Schmidt, hierbei das „wertschätzende, empathische Pacing“ (Spiegeln des Verhaltens, verbal und nonverbal).

2. Nun fragen Sie nach dem „gewünschten Erleben/ Ziel-Erleben“

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3. Schauen Sie welche Antworten Ihre Klientin findet. Der Fokus liegt jetzt auf den inneren Dialogen und dienen der Vorbereitung auf das Seitenmodell. Sie können hier die folgenden Fragen anbieten:

      • Wie finden Sie das von sich?
      • Wie bewerten Sie sich?
      • Wie reden Sie mit sich selbst?
      • Wie gehen Sie mit sich um, wenn das Problem-Erleben immer noch auftritt?

Seiten kennenlernen

4. Im nächsten Schritt bieten Sie Erläuterungen und die Beschreibungsform „Seiten“ an. Sie können sowas sagen wie: „Wenn man diese inneren Dialoge beachtet, kann man sagen, dass diejenige Person, die das Problem-Erleben erleidet, nicht die ganze Person sein kann, denn es gibt ja andere Seite(n), die mit der reden.“

5. Jetzt geht es darum, den Unterschied der Wirkung im Erleben zu bemerken. Wie ist es, wenn ihre Klienten wie bisher sagt: „Ich, ich, ich…(z.B. Ich bin nicht gut genug. Ich bin so wütend, ich bin allein. Schauen Sie jetzt, was passiert, wenn Ihre Klientin sich selbst sagen würde: „Eine Seite von mir (z.B. leidet, ist wütend, fühlt sich nicht gut genug) und eine andere Seite geht mit der ..so und so.. um (z.B. ziemlich hart um, klagt an, übt Druck aus…). Das sind Seiten, nicht ich als ganze Person… .“ Prüfen Sie jetzt gemeinsam mit Ihrer Klienten: Was sind die Auswirkungen des Erlebens? Wie fühlen sich beide Sätze an und welchen Unterschied macht es?

Seiten erleben

6. Daraufhin wenden Sie sich gemeinsam mit ihrer Klientin der „leidenden Seite“ zu. Mit mit Hilfe des „Erlebnis-Netzwerks“ werden die Aspekte des Erlebens konkret beschrieben. Fragen können hier sein:

      • Zu wem werden Sie, wenn Sie sich mit der leidenden Seite so identifizieren, sich quasi mit ihr verwechseln?
      • Wie groß/klein, stark/schwach, wie alt/ jung fühlen Sie sich dabei?
      • Mit welcher Körper-Koordination und Atmung geht dieses Erleben einher?

7. Im folgenden Schritt wird diese „Seite“ personifiziert. Als wäre es ein „echtes Wesen“. Höchstwahrscheinlich war die Klientin dieses Wesen auch schon einmal – beispielsweise in Form der jüngeren Version als kleines Mädchen o.ä. Diese wird sich nun vorgestellt und auch die Situation, in der sie sich so gefühlt erlebt. Es kann nun überlegt werden, welchen Namen man diesem „Wesen“ geben könnte und vor allem, was es brauchen könnte. Der Fokus liegt hier darauf, zu erfahren, welche Bedürfnisse hinter dem Problem-Erleben stecken (z.B. das Bedürfnis nach Bindung, Anerkennung, Sicherheit o.ä.)

Wirkung prüfen

8. Zum Schluss wird die Klientin gefragt, wie sich diese Variante auf die Seite, die anklagt oder Druck macht (sofern es diese gab wie in diesem Beispiel) auswirkt. Wie geht es dieser „anklagenden Seite“, wenn man so mit ihr umgeht? Als Coach können Sie nun anbieten, hypnotherapeutisch einmal durchzuspielen, wie es sich auswirken würde, wenn ebenso mit der „leidenden Seite“ so umgegangen wird, um sie in ihren Bedürfnissen zu sehen und etwas dafür zu tun.

Ihre Klientin wird gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, mehr so mit der „leidenden Seite“ umzugehen. Sofern es vielleicht eine Zeit im Leben der Klientin gab, in der in dieser (wertschätzenden) Art mit sich/ ihren Seiten umgegangen ist, können Sie hier nachfragen, was genau dabei geholfen hat und wie sie das eigentlich gemacht hat.

Wozu brauchen wir das Seitenmodell für unsere Resilienz?

Abtsract concept - Depositphotos- Resilienz AkademieWie stark Ihre Resilienz ist, hängt maßgeblich davon ab, wie Sie mich sich selbst umgehen. Wie nehmen Sie Ihre Emotionen wahr? Kennen Sie Ihre Bedürfnisse und sorgen Sie gut für sich? Je besser wir in Kontakt mit uns selbst stehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für gut funktionierende zwischenmenschliche Beziehungen. Das Seitenmodell ermöglicht einen einfachen und gleichzeitig hoch effektiven Weg, unser „resilientes Ich“ zu stärken und damit Stress zu reduzieren.

Jede Seite/ jeder innere Anteil, der sich zeigt, hat seine Berechtigung und wird entsprechend der Bedürfnisse gewürdigt. Das kann auch ein ganzes „Team“ sein. Denn, wenn wir uns ein „Problem-Erleben“ einmal genauer anschauen und reflektieren, gibt es in der Regel nicht nur 1-2 Seiten, die etwas zu sagen haben, sondern viele Stimmen in uns, die auch eine Meinung dazu haben und gehört werden möchten. Das Schöne ist: Werden sie gehört und sortiert, kehrt innere Ruhe ein.

Ein Prozess beginnt, in dem man einen inneren Raum schafft, der es auch auf spielerische Weise ermöglicht, sich mit dem derzeitigen Problem-Erleben zu beschäftigen und zu neuen Lösungsansätzen zu kommen. Durch den Zugang zum Unterbewusstsein können Glaubenssätze und Überzeugungen reflektiert und auch entsprechend umformuliert werden, um besser mit Herausforderungen umzugehen.  Letztlich hilft das Seitenmodell dabei, das Selbstvertrauen zu stärken, indem unangenehme Gedankenmuster und Selbstzweifel angeschaut, gelöst und ein Gefühl der inneren Stärke und Sicherheit gefördert werden.

Quellen:

  • Grawe, Klaus (2005): (Wie) kann Psychotherapie durch empirische Validierung wirksamer werden? Psychotherapeutenjournal
  • Peichl, Jochen (2023): Jenseits der therapeutischen Beziehung. Was wirkt in Hypnotherapie und hypnotherapeutischer Teiletherapie?
  • Schmidt, Gunther (2005): Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung.
  • Schmidt, Gunther: Fortbildungsunterlagen Metaforum 2022 ©Dr.G.Schmidt, MEI Heidelberg, www.meihei.de 
  • www.Depositphotos.com: Abtsract concept of people metting. Talking. Social media.@Ostancoff, Man, guy watercolor silhouette, isolated, vector@zolotons@mail.ru_Z, Conversation – Abstract Watercolor Painted Speech Bubbles @ KenDrysdale, Light bulb on white background@Asetrova.

Resilienz Akademie | Das Seitenmodell (nach G. Schmidt) - Hintergrund und Wirkung für mehr ResilienzChristina Comnick, M.A. Management–Education–Diversity (Sozial- und Gesundheitsmanagement), ist Kooperationspartnerin der Resilienz Akademie und Expertin für „Seelische Resilienz“. Gemeinsam mit Sebastian Mauritz entwickelt sie das Konzept und leitet die dazugehörige Fortbildung. Sie ist Resilienz-Trainerin & Coachin, Antigewalt- und Kompetenztrainerin und setzt sich seit ca. 15 Jahren für die Prävention seelischer Gesundheit und Krisenintervention ein. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Themen: Sinn, Spiritualität, Intuition, Emotionsregulation und Deeskalation. (www.christinacomnick.de)


Resilienz Akademie | Das Seitenmodell (nach G. Schmidt) - Hintergrund und Wirkung für mehr Resilienz

Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 200 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de).

 

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