Salutogenese

Wenn man sich unser Gesundheitssystem in Deutschland anschaut, so ist der Name eher irreführend. Denn oft liegt der Fokus eben nicht auf der Gesundheit, sondern viel eher auf dem, was uns krank macht. Genau das Gegenteil ist bei der Salutogenese der Fall: Denn hierbei geht es explizit um den Fokus darauf, was uns gesund werden und bleiben lässt.

Die Bedeutung des Begriffs lässt sich aus seinem Namen ableiten. Im Lateinischen bedeutet „salus“ so viel wie „Gesundheit“ oder „Wohlbefinden“ und der Anhang „-genese“ kann als „Entstehung von“ übersetzt werden. Salutogenese bedeutet also die Entstehung von Gesundheit.

Der Ursprung der Salutogenese

Der amerikanisch-israelische Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovsky stellte als Begründer der Salutogenese nicht nur einen Gegenbegriff zur Pathogenese, sondern leitete einen zentralen Perspektivwechsel für die Gesundheitswissenschaften und die Gesundheitsförderung ein.

Die Kernfrage bei seinen Überlegungen ist, wie ein Organismus es schafft, unter welchen Bedingungen auch immer, sich gesund zu entwickeln, zu wachsen und zu vermehren. Er argumentiert, dass es in der Forschung nur dann Erkenntnisfortschritte über die Gesundheit der Bevölkerung geben kann, wenn die Wissenschaft sich nicht ausschließlich auf Krankheit und deren Entstehung fokussiere.

Angeregt, sich einer der Pathogenese entgegengesetzten Betrachtungsweise zu nähern, wurde der Medizinsoziologe durch eine Untersuchung von der Anpassungsfähigkeit verschiedener Frauen an die Menopause. Die Gruppen setzten sich aus Frauen mit unterschiedlicher ethnologischer Herkunft zusammen, und eine der Gruppen bestand aus Frauen, die ein nationalsozialistisches Konzentrationslager überlebten. Antonovsky verglich deren psychische und physische Gesundheit mit einer Kontrollgruppe und stellte fest, dass 29% als gesund bezeichnet werden konnten. Und das, obwohl sie die Qualen des Lagerlebens mit anschließendem Flüchtlingsdasein erlebt hatten.

Der Forscher befragte diese Frauen intensiv, wie sie so eine enorme Stressbewältigung anstellten. Aus den Gesprächen konnte er den zentralen Faktor für die Entstehung und den Erhalt von Gesundheit rausfiltern, den „sense of coherence“. Auf Deutsch nennen wir es das „Kohärenzgefühl“.

Das Kohärenzgefühl als Schlüsselkonzept der Salutogenese

Mit dem Kohärenzgefühl beschreibt Antonovsky ein zentrales Schlüsselkonzept der Entstehung von Gesundheit. Es bedeutet, dass Menschen der tiefen Überzeugung und der Zuversicht sind, dass ihr Leben verstehbar, zu bewältigen und sinnvoll ist. Daraus ergeben sich die drei Komponenten des Kohärenzgefühls:

  1. Verstehbarkeit (sense of comprehensibility)
  2. Machbarkeit (sense of managebility)
  3. Sinnhaftigkeit (sense of meanigfulness)

Verstehbarkeit meint hier, dass das eigene Leben als kognitiv klar, verstehbar und strukturiert wahrgenommen wird. Nach dem 4Mat erhöht die Frage nach dem „Warum“ die Verstehbarkeit. Die Machbarkeit setzt sich dagegen aus den Fragen nach dem „Was“ und dem „Wie zusammen“. Es ist die Überzeugung, dass die Anforderungen und Belastungen des Lebens grundsätzlich bewältigbar sind. Und die Sinnhaftigkeit stellt zuletzt jenes Vertrauen dar, dass das eigene Leben sinnvoll und die Überwindung von Herausforderungen es wert ist. Dies wird durch die Frage nach dem „Wofür“ gestärkt.

Diese drei Komponenten stehen in engem Zusammenhang und nur aus dem Zusammenspiel ergibt sich das Kohärenzgefühl. Es ist zu verstehen als wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster, das bei der Selbstreflexion unterstützt.

Das Kohärenzgefühl und der positive Zusammenhang zu psychischer Gesundheit sind in der Wissenschaft gut untersucht. Es zeigt sich in mehrere Studien, dass ein geringeres Kohärenzgefühl auch mit geringerer Gesundheit einhergeht. Zudem konnte eine große Metaanalyse aus dem Jahr 2019 aufzeigen, dass Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl weniger Stresssymptome nach belastenden oder sogar traumatischen Ereignissen zeigten.

Das Modell der Salutogenese

Das Kohärenzgefühl ist zwar ein zentrales Element bei der Entstehung von Gesundheit, jedoch steht es nicht allein für sich. In seinem Modell der Salutogenese macht Antonovsky deutlich, dass es eine Mehrzahl an beeinflussenden Faktoren gibt.

Der Grundsatz der Salutogenese

Ein wichtiger Grundsatz dieses Modells ist es, dass Gesundheit und Krankheit nicht zwei sich gegenüberstehende feste Größen sind. Vielmehr sieht er den Menschen als jemand, der sich zwischen diesen beiden Polen aktiv bewegt. Der Mensch ist also nicht nur krank oder gesund, er ist selbstverantwortlich dafür, auf welchen Pol er sich zu- oder von ihm wegbewegt. Somit ist das nachstehende Modell nicht als feststehender Verlauf zu betrachten, sondern als Prozess der Homöostase, die Aufrechterhaltung des physiologischen Gleichgewichts.

Denn bei der Salutogenese geht es nicht darum, Krankheit zu reduzieren. Vielmehr geht es um die Vermehrung von gesunden „Anteilen“, um mindestens einen Ausgleich von gesunden und kranken „Anteilen“ zu schaffen. Damit ist die Salutogenese klar ressourcenorientiert und hat den Menschen als Gesamtsystem im Fokus, statt der Konzentration auf Symptome unabhängig von der Person.

Das Modell und seine Komponenten

 

Resilienz Akademie | Salutogenese

(Modell nach Antonovsky 1979, angelehnt an Faltermaier 2017)

Einen zentralen Punkt, den dieses Modell vermittelt, ist die Annahme, dass die Einwirkungen von Stress und der Bewältigung von Spannungszuständen nicht direkt zu Krankheit oder Gesundheit führen, sondern auf das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wirken und somit Tendenzen bestärken statt Zustände. Damit öffnet das Modell die Wahrnehmung, dass sogar schwer oder chronisch erkrankte Menschen sich in Richtung Gesundheit bewegen können.

Das Kohärenzgefühl nimmt einen weiteren wichtigen Knotenpunkt in diesem Modell ein. Es wird bedingt durch allgemeine Widerstandsressourcen. Zu diesen Widerstandsressourcen zählen genetische, konstitutionelle wie auch psychosoziale Merkmale, die einem Menschen dazu verhelfen, Belastungssituationen besser zu bewältigen. Hierbei dient der soziokulturelle Kontext als Quelle solcher Ressourcen. Die positiven Lebenserfahrungen, die man aufgrund dieser Widerstandsressourcen erlebt, führen zu einem gestärkten Kohärenzgefühl, was sich direkt auf Spannungszustände auswirkt.

Spannungszustände kommen zustande durch die potenziellen inneren und äußeren Stressoren, die uns im Alltag begegnen. Eine erfolgreiche Bewältigung von Belastung führt wiederum zu einem gestärkten Kohärenzgefühl, während ein erfolgloser Bewältigungsversuch zu Stress führt. Stress ist dabei ein vielfach belegter Einflussfaktor auf die psychische wie auch physische Gesundheit.

Kein allgemeingültiges Modell

Bei der Betrachtung eines solchen Modells ist immer zu bedenken, dass es sich um eine starke Vereinfachung von einem sehr komplexen Thema mit vielen Wechselwirkungen handelt. Antonovskys Modell ist ein Vorschlag, Gesundheit neu zu verstehen, der keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Zum Beispiel lässt das Modell außer Acht, dass Menschen sich auch aktiv um eine Tendenz in Richtung Gesundheit bemühen können, durch positives Gesundheitsverhalten.

Sie sollten auch bedenken, dass Antonovskys Konzept vor fast 50 Jahren entstand. Er war damals der Annahme, dass sich das Kohärenzgefühl nur bis zum 30. Lebensjahr aufbaut und danach nicht mehr zu verändern sei. Allerdings zeigen aktuelle Studien zum Beispiel, dass es keinen Unterschied in der Stabilität des Kohärenzgefühls im Vergleich zwischen der Altersgruppe vor und nach dem 30. Lebensjahr gibt. Das heißt, das Konzept und der salutogene Ansatz werden stets weiterentwickelt und weiter beforscht, um neue Erkenntnisse über die Entstehung der Gesundheit zu erlangen.

Die Orientierung der Salutogenese

Obwohl der zentrale Fokus bei der Salutogenese auf der Entstehung von Gesundheit liegt, meint Antonovsky nicht, dass die Pathogenese unwichtig sei. Die beiden Konzepte sollten sich ergänzen. Dabei ist es das Anliegen, den Fokus nicht ausschließlich auf jene Faktoren zu richten, die zur Krankheit betragen. Es geht um einen Perspektivwechsel weg von einer Möglichkeitsbeschränkung auf ein „Entweder – Oder“.

Die salutogene Orientierung fokussiert sich im Gegensatz dazu auf das Gesundwerden/bleiben. Es gibt sieben Merkmale, die hierfür zusammengefasst werden können:

1. Orientierung an Stimmigkeit, Kohärenz, Verbundenheit und wohltuender Kommunikation. Der Mensch strebt stets nach Ordnung, um dem Chaos zu entkommen und sich trotz widriger Umstände gesund zu entfalten.

2. Ausrichtung auf attraktive Gesundheitsziele. Der Fokus liegt hier bei den Zielen und Wünschen wie beispielsweise Wohlbefinden, Sicherheit, Fitness, etc. und nicht auf dem Kampf gegen die Krankheit.

3. Orientierung an Ressourcen. Bei der Salutogenese geht es darum, die Ressourcen des Individuums zu erkennen, zu aktivieren und auszubauen. Die Unterstützung steht hier im Vordergrund, sodass alle Quellen für Wohlbefinden und Motivation genutzt werden.

4. Wertschätzung des Subjektiven. Hier geht es nicht um Normen und Normalwerte, sondern um die Individualität der Person. Die Salutogenese erkennt das Subjektive an, also die Selbstwahrnehmung und die subjektiven die Emotionen.

5. Systemische, dynamische und lösungsorientierte Entwicklung. Die Salutogenese geht davon aus, dass der Mensch sich aktiv zwischen Gesundheit und Krankheit hin und her bewegen kann. Er reguliert also selbst zwischen Krankheitssymptomen und der Genesung.

6. Fokus auf kommunikative Selbstorganisation und –regulation. Der Mensch wird hier als autonomes Wesen angesehen, und nicht als manipulierbares Objekt. Für die Selbstregulation werden individuelle, soziale und kulturelle Kontexte miteinbezogen.

7. Sowohl – als auch – Haltung. Es gibt nicht die Dichotomie, dass man nur krank oder nur gesund sein kann. Beides kann auch nebeneinander bestehen und einen fließenden Übergang haben. Im Lebensprozess ist Krankheit und Gesundheit vorhanden.

Salutogenese und Resilienz

Die Resilienz beschreibt die innere Widerstandskraft, die uns in Krisen stärkt und dafür sorgt, dass wir schnell wieder aufstehen können. Und es ist auch die Kraft, die eigenen Selbstheilungskräfte zu aktivieren, sodass wir aktiv die Entstehung von Gesundheit herbeiführen. Dabei hängen beide Konzepte eng miteinander zusammen. Denn was Antonovsky bei den überlebenden Frauen aus dem KZ entdeckte war nicht nur das Kohärenzgefühl – diese Frauen waren resilient!

Resilienz und Schutzfaktoren

Was Antonovsky als allgemeine Widerstandsressourcen beschreibt, wird in der Resilienzforschung als Schutzfaktoren psychischer Gesundheit betrachtet. Die Schutzfaktoren sind jene Merkmale eines Menschen, die ihn widerstandsfähig im Umgang mit inneren und äußeren Stressoren werden lässt. Sie erhöhen also die Möglichkeit zur erfolgreichen Bewältigung von Spannungszuständen. Dabei wird ein hohes Kohärenzgefühl als einer dieser Schutzfaktoren begriffen.

Resilienz und Salutogenese weisen eine große Nähe zueinander auf und beide Konzepte sind eine wertvolle Betrachtung für die Bewegung zur Gesundheitsförderung. Allerdings kann das eine das andere nicht ersetzen. Resilienz befasst sich neben der Anpassungsreaktion auf Spannungszustände auch mit der Regulation von Emotionen und der Oszillation zwischen verschiedenen Spannungszuständen. Es geht dabei nicht nur um die Stressprävention, sondern um die allgemeine Zustandsregulation. Anders herum umfasst die Salutogenese als bio-psycho-soziale Theorie einen umfassenderen wissenschaftlichen Hintergrund als die Resilienz, die in der Forschung weitestgehend auf die psychische Entwicklung des Menschen bezogen ist.

Gesundheit als Prozess

Was beide Ansätze vereint, ist die Annahme, dass Gesundheit kein festgeschriebener Zustand ist. Es ist ein Prozess. Es wird immer wieder Phasen geben, in denen Krankheit gegenüber der Gesundheit überwiegt. Resilienz ist keine Garantie, dass es keine Krisen im Leben geben wird. Und ein hohes Kohärenzgefühl ist kein Garant für dauerhafte Gesundheit.

Doch es besteht immer die Möglichkeit, sich selbst auf der Achse zwischen Krankheit und Gesundheit zu bewegen. So kann ein Resilienz-Training Sie dabei unterstützen, sich auf den Gesundheitspol zu zubewegen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine ausgewogene Lebensweise, wo Widerstandsressourcen und Resilienz gefördert werden, die beste Voraussetzung für ein langfristig gesundes Leben ist.

Resilienzkongress 2023 – im Gespräch mit T.D.Petzold

Näheres zum Thema:“Salutogenese und Kohärenzmotivationerfahren Sie im Interview mit Theodor Dierk Petzold, Arzt für Allgemeinmedizin, NHV, Europ. Cert. f. Psychotherapy; Supervisor und Leiter des Zentrums für Salutogenese in Bad Gandersheim.
Weitere Informationen finden Sie auf der Seite des Resilienz-Kongresses: www.2023.resilienz-kongress.de/speaker/theodor-dierk-petzold


Resilienz Akademie | SalutogeneseSebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienz-Expert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).

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