Woran denken Sie, wenn Sie eine andere Person seufzen hören? Normalerweise verbinden wir Seufzen mit einem akustischen Ausdruck von Sorge, Resignation, Langeweile oder Sehnsucht, aber auch Zufriedenheit. Überwiegend gehen wir jedoch beim Seufzen von unangenehmen Gefühlszuständen aus. Was uns eher nicht in den Sinn kommt ist, dass wir mit Seufzen regelrecht Atemhygiene betreiben. Seufzen ist ein hervorragender Mechanismus zur Regulation von Stress, der sogar lebensnotwendig ist.
Warum wir Seufzen
Haben Sie sich schon einmal bewusst beim Seufzen beobachtet? Es scheint so, als dass wir unwillkürlich Seufzen, jedoch auch bewusst seufzen können. Genau wie bei unserem alltäglichen Atmen ist uns die meiste Zeit nicht bewusst, wie wir atmen, doch wir können willkürlich Einfluss darauf nehmen. Deshalb wird es Sie vielleicht auch überraschen, dass wir durchschnittlich 12-mal pro Stunde seufzen. Natürlich nicht immer durch ein Geräusch begleitet.
Doch wozu passiert es so oft am Tag? Dazu müssen wir uns zunächst anschauen, was ein Seufzen eigentlich ist. Denn das theatralische Seufzen, das wir aus Liebeskomödien in Kummer-Szenen kennen, ist nur eine Ausdrucksform. Im Grunde besteht diese Atmung aus einer doppelten Einatmung, einem langen Ausatmen und einer kurzen Pause vor dem nächsten Atemzug. Bei schluchzenden Kindern zum Beispiel lässt sich die doppelte Einatmung sehr gut erkennen.
Dieses Atemmuster tritt in verschiedensten Situationen auf, je nach emotionalem Zustand. Dabei erfüllt das Seufzen in unserem alltäglichen Leben eine spezifische physiologische Funktion. Unsere Lunge besteht aus ungefähr 300 Millionen sogenannter Lungenbläschen (Alveolen). Bei unserer normalen Atmung kann es passieren, dass einige dieser Lungenbläschen kollabieren, also in sich zusammenfallen. Das Seufzen ist der vom Hirnstamm initiierte Prozess zur Gegensteuerung. Denn die doppelte Einatmung bringt auch das Zwei- bis Fünffache des Luftvolumens im Vergleich zu einem normalen Atemzug mit sich. Durch das Seufzen füllen sich die Lungenbläschen wieder mit Luft können ihrer Aufgabe als Gasaustauscheinheit nachkommen.
Wie Seufzen zur Atemhygiene beiträgt
Das Wissen darum, wie wichtig Seufzen für eine gesunde Atmung ist, ist gerade jetzt besonders wichtig, wo Menschen durch eine schwere Covid-19-Erkrankung auf künstliche Beatmung angewiesen sind. Würde das Beatmungsgerät in stets dem gleichen Rhythmus beatmen, bestünde die Gefahr, dass zu viele der Bläschen kollabieren ohne entsprechende Gegenmaßnahme. Unregelmäßigkeit bedeutet hier, ebenso wie es bei der Herzratenvariabilität (HRV) der Fall ist, also Gesundheit.
Eine weitere Funktion, die diese Atmung mit sich bringt, ist ebenfalls physiologischer Natur. Unser Atem hat direkten Einfluss auf unsere Herzfrequenz – Bei der Einatmung beschleunigt sich unser Herzschlag, während er bei der Ausatmung verlangsamt. Diese Schwankung wird als respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) bezeichnet. Sinus stammt von unserem Taktgeber des Herzens, dem Sinusknoten ab, und Arrhythmie bezieht sich auf das Ungleichmäßige, das (wie Sie bereits wissen) lebensnotwendig ist.
Der Sinusknoten wiederum wird vom Sympathikus und vom Parasympathikus beeinflusst. Während der Parasympathikus in Ruhezuständen dominiert und eine Herzfrequenz senkende Wirkung hat, beschleunigt der Sympathikus den Herzschlag in erregenden Situationen – d.h. bei Stress. Diese Wirkung geht allerdings in beide Richtungen: Wir können durch langes Ausatmen den Parasympathikus aktivieren und damit Entspannungszustände fördern.
Seufzen erfüllt also eine Doppelfunktion: 1. Durch das doppelte Einatmen werden die Lungenbläschen mit Luft gefüllt. 2. Die längere Ausatmung aktiviert den Parasympathikus und sorgt für Entspannung.
Mit Seufzen Stress abbauen
Wir können also durch unsere Atmung unsere Herzfrequenz beeinflussen und durch die Aktivierung des Parasympathikus unseren Stress abbauen. Doch was unterscheidet nun Seufzen von der Resonanzatmung beispielsweise?
Bei der Resonanzatmung handelt es sich um eine Atmung, die dem Rhythmus des Herzens folgt: 4 Sekunden Einatmung und 6 Sekunden Ausatmung. Studien haben gezeigt, dass dieser Atemrhythmus die Herzratenvariabilität erhöht und somit einen direkten Einfluss auf unser Wohlergehen hat. Auch hier zeigt sich der Effekt des längeren Ausatmens zur Entspannung, bzw. Stressregulation. Der Wirkmechanismus ist bei beiden Atmungsarten gleich, doch das Seufzen erfüllt neben den beiden oben genannten Funktionen noch zwei weitere.
Zum einen erzeugt diese Art der Stressregulation eine andere subjektive Wirkung. Machen Sie gerne jetzt den direkten Vergleich:
- Fall: Atmen Sie nun einmal 4 Sekunden ein und dann für 6 Sekunden aus. Am besten durch die Nase und in den Bauch hinein atmen.
- Fall: Atmen Sie einmal kurz ein, direkt danach noch einmal lang einatmen und lassen Sie die Luft stoßartig und am besteh mit einem Geräusch lang ausströmen.
Welchen Unterschied haben Sie gemerkt? Vielleicht kam es Ihnen so vor, als würden Sie in Fall zwei mehr Ballast „herausatmen“ können, während im ersten Fall die Regulation eher meditativ verläuft. So bezeichnete der norwegische Psychologe K.H. Teigen einst das Seufzen als „Stuhlgang der Seele“.
Der zweite Unterschied zwischen den beiden Fällen wird in der Außenwirkung deutlich. Die Resonanzatmung wird man Ihnen, wenn überhaupt, nur an der Bauchatmung ansehen können. Ein Seufzen, insbesondere wenn es von einem Geräusch begleitet wird, kann man Ihnen sehr wohl anmerken. Die kommunikative Wirkung von Seufzern kann so ebenfalls zum Stressabbau beitragen, wenn Sie beispielsweise zu der Frage führen: „Was ist denn los?“.
Wozu Seufzen im Alltag führt
Seufzen kann also nicht zur zu einem subjektiv empfundenen Stressabbau, sondern auch durch einen real physischen und messbaren Mechanismus zur Regulation beitragen. Mit ein paar willkürlichen Seufzern betreiben Sie Atemhygiene und regulieren gleichzeitig Ihren Zustand. Sie fördern also Gesundheit und Resilienz.
Doch wie bei allen Dingen im Leben gilt auch hier das Prinzip, was die Schweden als „Lagom“ bezeichnen: Nicht zu viel, nicht zu wenig, genau richtig. Wir können auch zu viel Seufzen. Ein exzessives Seufzen gilt sogar als diagnostisches Merkmal für ernsthafte psychische Erkrankungen wie Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung und Depression. In extremen Fällen führt dieses übermäßige Seufzen dann zur Hyperventilation.
Beim Seufzen gilt also nicht die Regel „Viel hilft viel“. Zumal ständiges Seufzen oder gar Stöhnen bei Ihren Mitmenschen wohl auch nicht allzu gut ankommt. Vielmehr hilft Ihnen gezieltes und gelegentliches Seufzen, Ihren emotionalen Zustand zu regulieren und Stress abzubauen.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 100 weiteren Resilienzexpert*innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).