Während der Corona-Pandemie sind die Menschen weltweit aufgefordert Abstand zueinander zu halten, um die Ansteckungsgefahr zu vermeiden. Dieser wissenschaftlich empfohlene Sicherheitsabstand von 2 Metern ist als „social distancing“ – also „soziales Entfernen“ – bekannt. Allerdings ist gerade in so einer Krisenzeit der Begriff mehr hinderlich als förderlich für die Gesundheit.
Warum „social distancing“ nicht gut für die Gesundheit ist
Noch nie war Menschenleben retten so einfach: Lediglich Freunde, Familie, Sport- und Kulturevents meiden und schon ist man Alltagsheld*in. So behaupten es Einige. Dabei ist die Abschottung von sozialen Kontakten paradox. Sie soll unsere und die Gesundheit anderer bewahren, schadet dabei aber aktiv insbesondere der mentalen Gesundheit. Schuld daran vor allem der vorherrschende Begriff des sozialen Entfernens.
Bindung ist ein Grundbedürfnis des Menschen
Seit Jahrtausenden leben und überleben wir in Gemeinschaften. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir brauchen die Nähe und die soziale Unterstützung anderer, um mental und physisch gesund zu bleiben.
Und besonders in solchen Ausnahmezuständen und bei solch einer Unsicherheit, wie der Corona-Krise, brauchen wir die Unterstützung und Geborgenheit anderer Menschen. An dieser Stelle muss ausdrücklich gesagt werden, dass der Abstand von 2 Metern wichtig und richtig ist, um die weitere Verbreitung des in einigen Fällen tödlichen Virus zu unterbinden.
Das Gesundheitsgefährdende an der sozialen Entfernung ist nicht der Sicherheitsabstand, sondern die innere Haltung, die mit dem Begriff „social distancing“ einhergeht. Es sind die Abkapselung von anderen Menschen und die Schuldgefühle bei sozialen Aktivitäten, die auf Dauer unser Grundbedürfnis nach Bindung schädigen und uns krank machen.
Die Wirkung von Worten
Doch warum hat der Begriff des sozialen Entfernens so eine Macht über uns? Auch, wenn uns dieser Fakt nicht immer bewusst ist: Worte formen unsere Realität. Das nennt sich eine semantische Reaktion: Durch unsere Sprache entstehen Bilder in unserem inneren Kopfkino, die sich auf unsere Gedanken und sogar auf den Körper auswirken.
Sprache, Körper und innerer Raum sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Soziales Entfernen produziert bei uns automatisch ein Bild der Entfernung von anderen. Und das führt letztendlich zu einem Gefühl von Einsamkeit.
Diese Einsamkeit, allein durch den Begriff verursacht, hat drastische Folgen – sie wirkt auf die Psyche wie Gift. Chronische Einsamkeit verstärkt Schlafstörungen, Depression, Herz-Kreislauf-Störungen und senkt das Immunsystem. Statt die Gesundheit zu beschützen, senken wir durch die mentale Haltung des sozialen Entfernens tatsächlich die Gesundheit und machen uns anfälliger für Krankheiten, das gilt auch für COVID-19.
Sozial aus der Ferne statt Soziales Entfernen
Die Lösung für diesen Umstand liegt im Refraiming. Statt sich sozial zu entfernen, müssen wir lernen, sozial aus der Ferne zu sein. Dafür plädiert auch Jamil Zaki, Professor der Psychologie an der Stanford School of Humanities and Sciences und Direktor des Stanford Social Neuroscience Laboratory. Er spricht sich in einem Artikel der Stanford News dafür aus, „social distancing“ aufzuteilen in „physical distancing“ und „distand socializing“. Das heißt, anstelle des sozialen Entfernens sollten Menschen eher an körperlichen Abstand mit gleichzeitiger Verbundenheit denken.
Wie verhindern wir Einsamkeit in der Corona-Krise?
Digitale Medien wurden lange Zeit verteufelt als Entwicklung, die soziale Interaktionen entfremdet. Doch jetzt erleben wir eine Zeit, in der uns gerade die digitalen Lösungen wie Videotelefonanrufe ermöglichen, einander zu sehen und zu hören, aus der Sicherheit der eigenen vier Wände. Es gibt mehrere Möglichkeiten, auch ohne körperlichen Kontakt Nähe zu beweisen und verbunden zu bleiben. Ob es nun Online-Brettspielabende, virtuelle Kaffee-Pausen oder ganz analoges Briefe-schreiben ist.
Solch eine Krise lässt sich am besten gemeinsam meistern und das Internet bietet uns die Chance, sich zu vernetzen, kreative Lösungen für sozialen Austausch zu finden und Unterstützung zu finden. Leider haben gerade als Risikogruppe beschriebene ältere Menschen meist nicht den Zugang zur modernen Technik oder das Verständnis dazu. Hier ist Solidarität und Kreativität als Gemeinschaft gefragt. Sei es die direkte Nachbarschaftshilfe oder gemeinsames Singen vom Balkon – es gibt Möglichkeiten zum „distant socializing“.
Sozial aus der Ferne zu sein ist daher die resiliente „sowohl-als-auch“-Lösung.
Resilienz in Krisenzeiten – Gemeinsam stark und gesund bleiben
Die aktuelle Lage verlangt weltweit viel von den Menschen ab. Pflegekräfte, Eltern, Kinder, Unternehmer, Arbeitende, etc. kommen an ihre Grenzen. Uns fehlt das ‚normale‘ Leben. Was wir als weltweite Einheit gerade erleben, stellt nicht nur eine extreme Herausforderung, sondern auch eine extreme Belastungssituation dar.
Umso wichtiger ist es, dass wir widerstandsfähig in solch einer Zeit bleiben und uns bestmöglich unterstützen. Bindung ist eine wichtige Säule der Resilienz und ein Grundbedürfnis des Menschen. Wir brauchen einander, um mit dem Stress der Pandemie umgehen zu können. Resilienz ist dabei ein Teil, der unsere Gesundheit, physisch wie mental, erhält.
Durch die innere Widerstandskraft und resilientes Umdenken schaffen wir es von sozialem Entfernen hin zum sozial aus der Ferne zu agieren. So werden verhindern wir Langzeitschäden durch Vereinsamung in dieser Krise und gehen letztendlich gemeinsam gestärkt aus ihr hervor.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).