Wer hat’s erfunden? – Die Epidemie der Quellenamnesie

Wertschätzung ist ein Faktor, der nicht nur nobel ist, sondern auch Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und soziale Bindungen stärkt (vgl. Adler & Fagley, 2005). Damit ist jedoch nicht nur die Wertschätzung gemeint, die wir anderen Personen gegenüber ausdrücken, sondern auch die Würdigung der Leistungen anderer, zum Beispiel durch das Nennen von Quellen.

Hören Sie den Slogan „Wer hat’s erfunden?“ auch mit einem schweizer Akzent in Ihrem Kopf? Die Marke Ricola macht mit ihrer ikonischen Werbung deutlich, dass Quellen zu verschweigen oder Produkte als eigen auszugeben, ein Unding ist. Dabei können wir manchmal gar nichts dafür – und der Grund dafür ist die Quellenamnesie.

Warum wir Quellen angeben sollten – und es manchmal nicht können

Eine der ersten Dinge, die man im Studium zum Thema wissenschaftlichen Arbeiten lernt, ist, dass es bei Wissenschaft auch immer um die Würdigung derjenigen geht, die vorgearbeitet haben. In keiner Arbeit darf fehlen, was zu dem Thema bereits existiert und auf welche Quellen und Modelle man sich beruft.

Johannes von Salisbury schrieb schon 1159 in seinem Werk „Metalogicon“:

„Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.“

Nicht nur, dass das Zitat selbst eine Referenz dafür darstellt, das Gedankengut anderer zu würdigen (in dem Fall Bernhard von Chartres) – der Inhalt sagt aus, dass wir Vorangegangene würdigen sollten. Wenn Sie www.scholar.google.de im Browser eingeben, sehen sie unter dem Suchbalken den Schriftzug „Auf den Schultern von Riesen“ – Wahrscheinlich, um uns daran zu erinnern, Quellen zu würdigen.

Bei einer Literaturrecherche ist es relativ einfach, die Quellen anzugeben. Ein Verschleiern der Quellen wird nicht umsonst im akademischen Kontext scharf geahndet, wie beispielsweise 2011 der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg erfahren musste. Doch wie sieht es aus, mit alltäglicheren Referenzen?

Hier kann es sein, dass wir Quellen nicht nennen können oder falsch benennen, obwohl wir das nicht beabsichtigen. Der Grund dafür ist die sogenannte Quellenamnesie.

Was ist Quellenamnesie?

Der Begriff stammt (unserer Recherche nach) von Schacter, Harbluk und McLachlan, die einer 1911 gemachten Beobachtung näher auf den Grund gehen wollten (Schacter, Harbluk, & McLachlan, 1984). Da es sich um eine experimentelle Analyse handelte, definieren die Forschenden Quellenamnesie als den „Abruf von experimentell dargebotenen Informationen, ohne dass eine entsprechende Erinnerung daran besteht, wie sie erworben wurde“. In anderen Worten, es wird zwar ein Fakt gelernt, aber nicht gespeichert wie oder von wem.

Darüber hinaus unterscheiden sie Quellenamnesie (source amnesia) von Quellenvergessen (source forgetting). Beim Vergessen sei es so, dass zwar erinnert werde, wo die Information gelernt worden sie (zum Beispiel in einem Experiment) aber nicht von wem (z.B. welche Person den Fakt präsentierte). Zwar komme Quellenamnesie bei Menschen mit generellen Gedächtnisstörungen häufiger vor, kann aber auch bei ‚gesunden‘ Menschen auftreten.

Wie kommt es zur Quellenamnesie?

Resilienz Akademie | Wer hat’s erfunden? – Die Epidemie der QuellenamnesieWie kommt es dazu, dass wir Quellen vergessen? Den Grund dafür finden wir in der Architektur unserer Erinnerungen. Was wir als Quelle begreifen ist ein sehr empfindlicher Teil der Erinnerungen und wird im sogenannten autobiographischen Gedächtnis gespeichert. Der zentrale Verarbeitungsort im Gehirn ist der innerste Bereich des Hippocampus. Das auch episodische Gedächtnis genannt bietet allerdings vergleichsweise nicht so viel Speicherplatz, zumal hier auch all unsere persönlichen Erlebnisse gespeichert werden.

Fakten- und Allgemeinwissen landen im sogenannten semantischen Gedächtnis, wo mehr Speicherplatz vorhanden ist, und es weiter außen im Hippocampus verarbeitet wird. Wir speichern Quelle und Inhalt also nicht nur getrennt voneinander ab, sondern auch unterschiedlich gut.

Beim Zusammensetzen der erinnerten Informationen kann es so zu Fehlern kommen. In der Psychologie spricht man von „false memory“ (dt. Falsche Erinnerung) – wozu beispielsweise auch gehört, wenn wir ein geträumtes Erlebnis als real passiert abspeichern.

Unbeabsichtigtes Kopieren

Es gibt darüber hinaus noch zwei weitere Formen des unbeabsichtigten Kopierens, die wir hier kurz erwähnen wollen.

Kryptomnesie

Ein Phänomen, dass der Quellenamnesie ähnelt oder sogar von ihr hervorgerufen wird, ist die Kryptomnesie. Auch hier sind die Gedächtnisinhalte ‚nicht korrekt‘, weil der Erinnerungscharakter nicht bewusst wird. Als Folge hat das, dass es zu einem unbeabsichtigten Plagiat kommt. Wir erinnern uns unbewusst an etwas, das wir gelesen, gehört oder gesehen haben, und halten es für unsere eigene Schöpfung – unsere eigene Idee.

Ein Mangel an Aufmerksamkeit bei der Informationsaufnahme, die Wahrnehmung ähnlicher Einfälle oder auch Quellenamnesie sind Gründe für solch unabsichtliche Plagiate.

Antizipierendes Plagiat

“Anticipatory plagiarism occurs when someone steals your original idea and publishes it a hundred years before you were born.”

So schrieb es der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton in seinem Buch „Auf den Schultern von Riesen“ (Merton, 1965). Übersetzt bedeutet es: „Ein antizipierendes Plagiat liegt dann vor, wenn jemand deine Originalidee klaut und sie einhundert Jahre vor deiner Geburt veröffentlicht.“ Was er damit meint, wird an einem Beispiel deutlich.

Stellen Sie sich vor, Wissenschaftler A veröffentlicht 2024 eine bahnbrechende Idee in einer kleinen Fachzeitschrift, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitgehend ignoriert wird. Ein anderer Wissenschaftler B entwickelt unabhängig die gleiche Idee und veröffentlicht sie 2030 in einer prominenteren Zeitschrift. Aufgrund der größeren Sichtbarkeit der Veröffentlichung von Wissenschaftler B könnte es so erscheinen, als hätte Wissenschaftler A die Idee von Wissenschaftler B „gestohlen“, obwohl es in Wirklichkeit umgekehrt ist oder beide unabhängig voneinander die gleiche Idee entwickelt haben.

Hier könnte man unwissentlich Quellenamnesie vorwerfen, obwohl es sich um ein völlig unbeabsichtigtes und rein zufälliges Kopieren handelt. Wir sollten uns also im Zusammenhang mit Urheberschaft und Umgang mit Quellen bewusst machen, dass (wissenschaftliche) Entdeckungen oft komplizierter Natur sind und es zu Problemen mit Zuschreibung und Anerkennung in der Wissenschaft kommen kann. Umso wichtiger ist eine gute Recherche.

Quellenamnesie im professionellen Bereich

Ein Beispiel für Quellenamnesie in dem Sinne, in dem wir es im Weiteren benutzen wollen, zeigt sich anhand der Verwendung der sieben Säulen der Resilienz. In unserem Seminar gehen wir auf diese sieben Säulen ein, wobei wir das Modell nach Dr. Franziska Wiebel zitieren, und gleichzeitig wertschätzen, dass es von Ursula Nuber (Nuber, 1999) stammt.

Wenn Sie nun ein Seminar bei uns besuchen, kann es passieren, dass Sie sich zwar erinnern, dass Sie das Modell im Seminarkontext kennengelernt haben, vergessen aber Franziska Wiebel oder Ursula Nuber, oder schreiben Sebastian Mauritz das Modell zu. Das ist dann Quellenvergessen. Wenn Sie das Modell dann auf Ihrer Website beispielsweise präsentieren und gar keine Angaben zur Herkunft dieses Wissens machen, ist das Quellenamnesie.

Die Auswirkungen solcher Quellenamnesie im professionellen Bereich sind unter anderem:

  • Lesende und Lernende werden von weiterem Wissen abgeschnitten, was damit die Weiterentwicklung erschwert
  • Selbsterhöhung auf Kosten von anderen (was gut für die eigene Außenwahrnehmung, aber schlecht für die Seriosität ist)
  • Mindert epistemisches Vertrauen, dass die Person eine zuverlässige Informationsquelle ist (was ebenfalls schlecht für die Seriosität ist)

Wie können wir Quellenamnesie vermeiden?

Dass man mal eine Quelle nicht nennt oder falsch zuschreibt, kann passieren. Doch wir können auch aktiv etwas dafür tun, dass eine solche Quellenamnesie nicht passiert und wir die Herkunft unserer Informationen würdigen. Um das Vertrauen in einen selbst als Informationsquelle zu stärken, Wohlbefinden zu wahren und (wenn man dran glaubt) ein paar Karma-Punkte zu sammeln, gibt es folgende Strategien.

Aktive Verarbeitung der Informationen

Wenn Sie das nächste Mal, vielleicht hier bei uns im Blog, von einem spannenden Thema erfahren, das Sie mit anderen teilen wollen, achten Sie aktiv auf die Quelle. Notieren Sie sich Ihre Gedanken zusammen mit der Quelle, von der Sie sie haben. So können Sie, sollten Sie die Quelle doch mal vergessen, einfach nachschauen.

Um Ihr Gehirn beim Lernprozess und der richtigen Verknüpfung von Information und Quelle zu unterstützen, wiederholen Sie beide Aspekte zusammen so oft wie möglich. Erzählen Sie zum Beispiel Ihren Freunden von dem neu Gelernten, und nennen Sie die Quelle (auch wenn Sie nicht danach gefragt werden).

Quellen überprüfen

Selbst uns passiert es, dass wir unter Quellenamnesie leiden und zum Beispiel Zitate falsch zuordnen. Das ist uns mit einem vermeintlichen Zitat von Viktor E. Frankl passiert:

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Einige Zeit lang haben wir dieses Zitat zielsicher dem Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse zugesprochen. Dabei hat Frankl das wohl so nie gesagt. Das Zitat, das wie nutzen, stammt aus einem Vorwort von Stephen R. Covey, der es ebenfalls nur zitiert hat. Lesen Sie hier die ganze Geschichte hinter unserem Irrtum: Ein wichtiger Hinweis! Resilienz-Zitat. 

Es kann passieren, dass Quellen falsch überliefert werden, wir sie uns falsch merken und/oder ebenfalls falsch überliefern. Um so wichtiger ist es, regelmäßig die Quellen zu überprüfen und zu reflektieren. Insbesondere, wenn man plant Dinge zu veröffentlichen. Das erhöht die Verlässlichkeit und stärkt auch die Erinnerung an die Quelle.

Bei Weiterentwicklungen Urheber würdigen

Modelle sind eine äußert hilfreiche und nützliche Vereinfachung von komplexen Aspekten des Lebens. Sie helfen uns meist, schnell in ein Thema zu finden und Sachverhalte besser einzuordnen. Deshalb ist es auch sinnvoll, auf bestehende Modelle zurückzugreifen und sie gegebenenfalls zu erweitern, um sie nützlicher für einen bestimmten Kontext zu machen.

Um etwas Neues zu erschaffen, greifen wir auf Bekanntes zurück. Schließlich ist das auch die Basis von Kreativität. David Eagleman und Anthony Brandt schreiben in ihrem Buch „The Runaway Species: How Human Creativity Remakes the World“, dass die Konzepte Biegen, Brechen und Verbinden („bending“, „breaking“, „blending“) die zentralen Mechanismen der Kreativität sind.

Doch dabei sollten wir immer auch das würdigen, auf dessen Basis wir zu neuen Erkenntnissen kommen. Das hilft uns selbst und anderen gegen Quellenamnesie.

Wozu Quellenwürdigung führt

Quellenangaben unterstützen die Transparenz, Integrität und wissenschaftliche Genauigkeit. Abgesehen davon, dass Anerkennung positive Auswirkungen auf unser eigenes Wohlbefinden und bestimmt auch auf unseren Selbstwert haben, wobei letzteres eine reine Vermutung ist.

Wenn wir unseren Mitmenschen klar deutlich machen, woher die Informationen stammen, die geteilt werden:

  • steigert das die Glaubwürdigkeit der eigenen Person
  • schützt es vor unbeabsichtigtem Diebstahl von geistigem Eigentum anderer
  • ermöglichen wir anderen, die Originalquelle zu finden und weitere Details zu entdecken
  • würdigen wir die Anstrengungen und Beiträge der ursprünglichen Autoren und Autorinnen

Wir können auf dieser Basis auch für unsere eigenen tatsächlichen Leistungen Anerkennung bekommen.

Abschließend lässt sich noch sagen, dass Quellen Würdigen sich einfach gut anfühlt. In diesem Sinne: Vielen Dank an Ruben Langwara für den Titel des Textes ;)

Quellen:

Adler, M. G., & Fagley, N. S. (2005). Appreciation: Individual differences in finding value and meaning as a unique predictor of subjective well‐being. Journal of personality, 73(1), 79-114.

Eagleman, D., & Brandt, A. (2017). The Runaway Species: How Human Creativity Remakes the World. New York: Catapult.

Johannes von Salisbury: Metalogicon 3,4,46–50, hrsg. John B. Hall: Ioannis Saresberiensis metalogicon. Turnhout 1991, S. 116.

Merton, R. K. (1965). On the shoulders of giants. A Shandean postscript: University of Chicago Press.

Nuber, U. (1999). Das Konzept „Resilienz“: So meistern sie jede Krise. Psychologie heute, 20-27.

Schacter, D. L., Harbluk, J. L., & McLachlan, D. R. (1984). Retrieval without recollection: An experimental analysis of source amnesia. Journal of verbal learning and verbal behavior, 23(5), 593-611.

Bildquellen: DALL.E

Resilienz Akademie | Wer hat’s erfunden? – Die Epidemie der QuellenamnesieRebecca van der Linde, M.A. Germanistik und Kulturanthropologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Resilienz Akademie. Als Resilienz-Trainerin und Resilienz-Coach betreut sie den Blog der Resilienz Akademie und unterstützt in der konzeptionellen Entwicklung. Zudem agiert als SEO-Managerin für die Website. Ihr Schwerpunkt liegt auf der digitalen Präsenz der Themen rund um individuelle und organisationale Resilienz.

 


Resilienz Akademie | Wer hat’s erfunden? – Die Epidemie der Quellenamnesie

Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 240 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de) sowie des Resilienz-Podcasts Rethinking Resilience (www.Rethinking-Resilience.com).

 

 

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