Wie denken Sie über Fehler? In vielen Fällen kommt als erste Antwort: Fehler sind schlecht. Wir lernen schon von klein auf – besonders durch unser Schulsystem – dass Fehler zu vermeiden sind, um gute Noten, Anerkennung oder sogar Zuneigung zu erhalten. Aber Fehler können auch etwas Gutes bedeuten. Eine, im wahrsten Sinne, schöne Metapher für Resilienz und einen gesunden Umgang mit Fehlern ist Kintsugi.
Was ist Kintsugi?
Kintsugi (金継ぎ) ist eine traditionelle japanische Reparaturmethode für zerbrochene Keramik. Wenn zum Beispiel eine Vase herunterfällt und zerbricht, wird sie nicht einfach nur zusammengeklebt und erst recht nicht weggeschmissen. Stattdessen werden die zusammengesetzten Teile an den Bruchstellen mit echtem Gold bedeckt. Daher auch der Name, denn Kintsugi bedeutet übersetzt so viel wie „Goldverbindung“.
Die Philosophie hinter dieser aufwendigen Technik ist eine sehr wertvolle und wird in unserer heutigen Gesellschaft leider zu wenig gelebt. Dabei sind es besonders zwei Aspekte, die den Gedanken hinter Kintsugi tragen:
1. Kintsugi bedeutet Abkehr vom Perfektionismus
Damit etwas schön, wertvoll und sinnhaft ist, bedeutet es nicht, dass es perfekt, dass es „heil“ sein muss. Einmal Zerbrochenes ist nicht nutzlos oder verunstaltet, im Gegenteil. Es besitzt durch Kintsugi eine ganz besondere Schönheit. Hierbei kommt auch das japanische Konzept wabi-sabi zum Tragen: Schönheit liege nicht im Perfekten, sondern im Vergänglichen und im Unvollständigen.
2. Kintsugi bedeutet Ganzwerdung braucht Zeit
Die Reparatur ist ein langwieriger Prozess, der Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen kann, denn er beinhaltet längere Ruhephasen. Der Prozess fordert Geduld, Achtsamkeit und Zuwendung, sodass etwas Einzigartiges und Neues auf Vergangenem entstehen kann.
Kintsugi als Metapher für Resilienz
Kintsugi ist mit diesen beiden Aspekten nicht nur eine Metapher für eine gesunde Fehlertoleranz, sondern auch für Resilienz. Jeder von uns hat schon mindestens eine Krise überlebt und wir alle tragen auf die ein oder andere Art „Narben“ in und an uns. Und diese Narben im Sinne von Kintsugi als Veredelung, als Beweis unserer Überlebenskompetenz und unserer inneren Stärke, zu sehen, kann eine lebensverändernde Perspektive sein.
Jeder Bruch macht damit ein Keramikstück zum Unikat. Eine Vase zerbricht nie zweimal auf die gleiche Art und Weise, sowie ein Mensch nie zwei Mal auf die gleiche Art und Weise eine Krise erlebt. Unsere Fehler, unsere Makel machen uns nicht nur besonders, sie machen uns schön – eben menschlich. Ebenso wie für die Reparatur braucht es für den Resilienz-Prozess Zeit und Ressourcen (in Form von Schutzfaktoren). Resilienz ist die Kunst, nicht nur „ganz“ aus Widrigkeiten hervorzugehen, sondern veredelt. Und das geschieht, indem Fehler nichts Schlechtes sind, sondern als Lernerfahrungen wertgeschätzt werden.
Wie Sie Kintsugi im Leben anwenden
Wir können die Haltung von Kintsugi auf zwei Arten in unserem Leben nutzen und damit unsere Resilienz steigern. Zum einen speziell im Umgang mit Fehlern und zum anderen generell im Umgang mit uns selbst.
Feiern Sie jeden Fehler
Diese Anweisung klingt in der heutigen Leistungsgesellschaft absurd. Dabei ist es gerade eine solche Haltung gegenüber Fehlern, die erfolgreich macht. Dazu möchte ich eine kleine Geschichte mit Ihnen teilen:
Vor einigen Jahren wurde ich als Berater für ein Team einer Software-Firma zurate gezogen. Meine Aufgabe war es, die Team-Resilienz zu fördern. Das Problem dieses Teams zeigte sich schnell: Jeder Fehler, der gemacht wurde – und jeder, der schon mal einen Code gesehen hat, weiß, wie unscheinbar hier ein Fehler sein kann – wurde unter den Teppich gekehrt. Denn in der Regel folgte, wenn der Fehler entdeckt wurde, eine Abwertung von den Teamkollegen oder Kolleginnen. Was ich nun machte war, Kintsugi ins Leben zu übertragen.
Wir hingen eine Glocke im Büro auf und ich bat die Teammitglieder bei jedem entdeckten Fehler diese Glocke zu läuten. Wenn die Glocke geläutet wurde, so die Anweisung, sollten die anderen Teammitglieder kurz applaudieren. Nun raten Sie mal, was geschehen ist? Es herrschte nicht nur bessere Stimmung im Team, es nahm auch die Fehlerquote ab! Weil nun jeder Fehler gefeiert wurde, suchten die Programmierer:innen nach Fehlern und die Aufmerksamkeit bei der Arbeit stieg.
Fehler zu tabuisieren führt nur dazu, dass man sich nicht traut, sie zu offenbaren. Denn gemacht werden sie früher oder später eh. Sie jedoch als Entwicklungsunterstützer wertzuschätzen, hilft für einen gesunden Umgang mit Fehlern und steigert den Erfolg – durch Leistungsbereitschaft und Kreativität. Denn Innovation lebt davon, auch mal Fehler zu machen.
Stärken Sie das Gefühl innerer Ganzheit
Das Gefühl innerer Ganzheit bezieht sich nicht auf Fehler im Speziellen, sondern auf den Menschen in seiner Gesamtheit. Dies ist einer der Gründe, die diese Metapher für Resilienz so kraftvoll machen: Die Ganzheit ist wichtig, egal wie viele goldene Narben es dafür braucht. So sagte der bekannte Psychiater Carl Gustav Jung einst: „Ich will lieber ganz sein als gut“.
Die goldenen Linien eines zerbrochenen Stücks zeigen nicht nur an, wo Brüche einst waren, die mit Liebe, Zuwendung und Arbeit zusammengefügt wurden. Sie verbinden auch die schon vorhandenen Stücke und geben dem Gesamten eine neue, ganze Gestalt. Diese Ganzheit können wir selbst erfahren und uns mit Vergangenem und Zer- oder Abgebrochenem versöhnen.
Dieser Gedanke liegt dem Konzept von The Wholeness Work® von Connierea Andreas zugrunde. The Wholeness Work® – was übersetzt so viel wie „Ganzheitsarbeit“ bedeutet – ist eine effektive Form der Achtsamkeitsmeditation, die zu innerem Wohlbefinden, Frieden und eben einem Gefühl von innerer Ganzheit führt. Im Bild der Metapher wäre diese Methode das Zusammenfügen der einzelnen Teile, während das Zelebrieren der Fehler die Goldlegierung darstellt.
Mehr zu The Wholeness Work® erfahren Sie HIER.
Kintsugi als innere Haltung
Wie wäre es wohl in einer Welt zu leben, in der Menschen nicht nur dann wertvoll sind, wenn sie vollkommen und unbeschädigt sind? In der Fehler und Narben nichts sind, was wir verstecken müssen, sondern wobei wir stolz auf die Erfahrung und unsere Kraft sein können? Und jetzt die viel wichtigere Frage: Warum starten wir damit nicht sofort?
Denn es ist jeden Tag aufs neue Ihre Entscheidung, wie Sie mit Fehlern, mit Makeln und mit vermeintlicher Imperfektion umgehen wollen. Es liegt an uns selbst! Schließlich können wir mit Resilienz Ganzheit und einen wohltuenden Umgang mit der eigenen Menschlichkeit erreichen, wenn wir unsere goldenen Narben hervorheben.
Abschließend lässt sich der Kerngedanke der Metapher von Kintsugi so zusammenfassen: Wir sind nicht wertvoll trotz unserer Fehler und Brüche, sondern aufgrund ebendieser.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).