Resilienz durch Stärkenarbeit

Von Fitness-Trackern, über Supplemente bis hin zu Neurofeedback-Geräten – der Selbstoptimierungswahn der Menschen treibt eine ganze Reihe an Entwicklungen in allen Bereichen voran. Dabei kann dieser Drang nach Verbesserung auch in Stress ausarten. Stärkenarbeit ist hier ein zentrales Stichwort, um Resilienz zu fördern und stressfreier persönlich zu wachsen.

Warum ist die Resilienzförderung durch Stärkenarbeit in unserer heutigen Gesellschaft so wichtig?

Begriffe wie „lebenslanges Lernen“ und „Humankapital“ haben in unserer Gesellschaft längst Einzug gehalten und zeigen auf, wie sehr die fortschreitende Ökonomisierung sich durch alle Lebensbereiche zieht, deren Maßstäbe verinnerlicht werden und oft unbewusst auf die Weltanschauung von Menschen wirken. Die Welt ist auch immer schnelllebiger sowie vernetzter geworden und fordert von Menschen ein, wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben.

Dies kann sozialen Druck auslösen, in dessen Folge sich häufig starke innere Antreiber oder auch Motivatoren entwickeln, die zur Selbstoptimierung und Leistungssteigerung anhalten. Die zentrale Frage ist jedoch, ob so eine Art mit den eigenen Kräften zu haushalten, wirklich nachhaltig ist und uns auf Dauer guttut. Wie können wir uns verbessern und gleichzeitig resilient bleiben? Die Antwortet bietet die Stärkenarbeit.

Der Druck zur Selbstoptimierung

Resilienz Akademie | Resilienz durch StärkenarbeitSelbstoptimierung ist in der Öffentlichkeit westlich geprägter Gesellschaften präsent wie nie zuvor. Sie repräsentiert einerseits das Idealbild der Selbstbestimmung, wird andererseits jedoch kontrovers diskutiert. Das Leitbild der Selbstoptimierung spiegelt nicht nur Ansprüche der Gesellschaft wider, sondern bringt auch vielfältige Trends hervor. Die Selbstoptimierungsbranche boomt. Selbstoptimierung als gesellschaftliches Phänomen individualistischer Kulturen fokussiert dabei die Eigenverantwortung von Menschen und entspricht dem ökonomisierten Gesellschaftssystem. Es ist der Appell, dass Sie möglichst aktiv, flexibel und mobil sein müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Dadurch droht die Gefahr eines Zwanges zur Optimierung. Selbstoptimierung stellt per Definition jedoch zunächst eine Verbesserung, oft mit dem Ziel der Selbstverwirklichung, dar. Sie ist aber keinesfalls ein reiner Selbstzweck, sondern auch eine Anpassung an die Umwelt, in der wir leben und ein Abbild der tief in unserer Gesellschaft verwurzelten Normen. Sich selbst oberflächlich und unreflektiert zu optimieren könnte so im schlimmsten Fall zu einem weiteren Stressfaktor werden.

Was unterscheidet die Stärkenarbeit von der Selbstoptimierung?

Der „blinde Fleck“ der Selbstoptimierung liegt erfahrungsgemäß darin, dass viele Menschen sich gar nicht bewusst sind, dass sie diese betreiben, die Beweggründe nicht hinterfragen und sich der Alternative der Stärkenarbeit nicht bewusst sind.

Die Auseinandersetzung mit der Stärkenarbeit und Selbstoptimierung ermöglicht einen reflektierten Blick, aus der eine eigene Haltung entstehen kann, die für eine ausgewogene und bewusste, nachhaltig wirksame und vor allem individuell ausgerichtete Stärkenarbeit wichtig ist. Im Optimalfall dient diese Stärkenarbeit dann einem Selbstzweck, wie z.B. dem Erleben eines Flow-Zustandes der Sache selbst wegen und stärkt das Wohlbefinden.

Das Fundament der reflexiven Stärkenarbeit

Obwohl die individuelle Stärkenarbeit nach dem Selbstzweck ausgerichtet ist, „denkt“ sie systemisch und bezieht nicht nur die individuelle Ebene, sondern auch das Lebensumfeld und die gesellschaftliche Komponente mit ein. Ebenso können die verschiedenen Lebensbereiche sowie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Stärkenarbeit ist also ein flexibler und dynamischer Arbeitsprozess und soll Fortschritte und positive Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen ermöglichen.

Reflexive Stärkenarbeit baut auf Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion auf

Entsprechend dieser systemischen Sichtweise bedarf es auch einer realistischen Sicht auf Veränderungsprozesse und Selbstreflexionskompetenz, denn dauerhafte Veränderungen finden immer eingebettet in einen Kontext statt und können mit Begleiterscheinungen, wie etwa dem Verlust von Stärken, einhergehen. Ebenso können sozial erwünschte und angestrebte Eigenschaften Nachteile mit sich bringen oder sozial unerwünschte Attribute bei näherer Betrachtung auch von Vorteil sein. Es ist also wichtig, sich der Auswirkungen bewusst zu werden.

Kritisch die eigenen Bedürfnisse und Motive zu betrachten, die hinter den Verbesserungswünschen stecken, ist wichtig, um herauszufinden, ob dabei den eigenen Zielsetzungen entsprochen wird. Hier kann die 5-Whys-Methode, nach Sakichi Toyoda, angewandt werden, mithilfe derer die wirklichen Beweggründe hinter unseren Wünschen identifiziert werden können. Bevor wir also unsere Ziele verfolgen, lohnt es sich zu fragen:

„Warum möchte ich das (wirklich)?“

Auf die Antwort auf diese Frage hin wird erneut „Warum?“ gefragt. Diese Frage-Antwort-Kette wird so oft wiederholt, bis je 5 Fragen und entsprechende Antworten vorliegen – oder manchmal auch mehr, wenn nötig. Diese Übung kann dabei helfen, die wirklichen Motivatoren hinter unseren Zielsetzungen aufzuspüren und die dahinter liegenden Werte bewusst zu machen.

Zum Beispiel stellt sich heraus, dass der Wert hinter dem Verbesserungsdrang „mehr Sport treiben“ Gesundheit ist. Wenn Ihnen dieser Wert bewusst ist, können Sie auch andere Stärken einsetzen und Maßnahmen finden, um diesen Wert abseits des Sportes zu leben. Das nimmt den Druck für diese eine Aktivität heraus. Es könnte aber auch ein Wunsch nach Anerkennung von anderen über einen durchtrainierten Körper dahinterstecken. Hier lohnt es sich, die Motivation und deren Umsetzung noch einmal zu hinterfragen und unabhängiger zu gestalten.

Resilienz Akademie | Resilienz durch StärkenarbeitSelbstakzeptanz als Alternative

An dem Beispiel sehen Sie: Nicht alles im Namen der Verbesserung ist gut. Sollte es sich z.B. nicht um wirklich eigene Ziele handeln, die angestrebt werden, könnte Selbstakzeptanz eine gesündere und selbstbestimmte Alternative zur (möglicherweise sonst nie endenden) Selbstoptimierung darstellen. Auch, wenn notwendige Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten fehlen, was durch die stark unterschiedlichen Zugangschancen und Ressourcen, zum Beispiel im Bereich der Bildung oder gesellschaftlichen Teilhabe, begünstigt wird, wirkt sich eine Sensibilisierung für Probleme gerade in diesen Fällen häufig negativ auf die Zufriedenheit aus.

Selbstakzeptanz könnte hier eine gesündere Alternative darstellen. Darüber hinaus ist diese auch hilfreich für die Stärkenarbeit, da so der Fokus von der Kompensation von Schwächen auf die Arbeit mit den Stärken gerichtet werden kann.

Reflexive Stärkenarbeit erfordert einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst

Aufbauend auf der Selbstreflexion und inspiriert von Arbeitsprinzipien aus der Beratung bedarf es für die reflexive Stärkenarbeit folgender Voraussetzungen:

  • Aufmerksamkeit und aufrichtiges Interesse an sich selbst
  • Kommunikation auf Augenhöhe, Wertschätzung, Vertrauen
  • Empathiefähigkeit, um emotionale Hintergründe zu verstehen und sich für eigene Bedürfnisse einzusetzen

Reflexive Stärkenarbeit umsetzen

Stärkeneinschätzung und Zielformulierung

Auf Grundlage einer geschulten Selbstwahrnehmung kann im nächsten Schritt die Stärkeneinschätzung und Zielformulierung erfolgen. Zur Auslotung von Möglichkeiten liegt der Fokus auf den vorhandenen Stärken und subjektiven Bewertungen dieser.

Lernen Sie sich also so gut wie möglich kennen, damit Sie nach Potenzialen (auch im Umfeld) suchen und dabei stets verschiedene Blickwinkel berücksichtigen können. Je mehr Informationen gesammelt werden, desto besser. Denn je genauer die individuelle Einschätzung ausfällt, desto leichter fällt es, die eigene Einzigartigkeit wahrzunehmen und später effektive Handlungspläne aufstellen zu können, die passgenau den Bedürfnissen entsprechen.

Aktiv werden und Stärkenarbeit leben

Anschließend wird ein Handlungsplan erstellt, der auf die Zielerreichung hinwirkt. Ziele realistisch zu betrachten, in kleine Schritte (Teilziele und alltägliche Handlungsziele) aufzuspalten und im Prozess Stärken und Ressourcen zu aktivieren und aufeinander abzustimmen, sind dafür essenziell.

„Übernehmen Sie (mehr) Verantwortung für sich selbst“, lautet hier die Handlungsmaxime. Eine realistisch kalkulierte Handlungsplanung und ein bedeutsames Ziel motivieren. Entwicklungen und Erfolge werden durch diese Vorgehensweise außerdem nachvollziehbar und der Arbeitsprozess kann reflektiert und gegebenenfalls angepasst werden.

Für das Beispiel Gesundheit bedeutet das, nicht nur mehr Sport in den Alltag zu integrieren, sondern viele kleine „gesündere“ Entscheidungen zu treffen. Die Treppe statt des Fahrstuhls zu nehmen, den Apfel statt der Chips, die Pause statt des Durcharbeitens, etc.

Reflexive Stärkenarbeit als Katalysator für Empowerment und gesellschaftliches Wachstum

Resilienz Akademie | Resilienz durch StärkenarbeitDie Überzeugung hinter der Stärkenarbeit ist, dass jeder Mensch Stärken und das Potenzial für positive Veränderungen aufweist. Dies erzeugt Hoffnung und ermöglicht Selbstwirksamkeit – einer der zentralen Faktoren für Resilienz.. Dementsprechend wird in einer stärkenorientierten Praxis, ausgehend von den Zielen, die Aufmerksamkeit auf Handlungsmöglichkeiten gelegt, um das subjektive Wohlbefinden zu verbessern. Wichtig ist, dass Sie direkt bei sich selbst ansetzen, sodass mithilfe Ihrer intrinsischen Motivation Kräfte mobilisiert werden, die nachhaltig die Lebenszufriedenheit steigern können.

Stärken zu fokussieren ist entscheidend, um Resilienz aufzubauen und den Alltag, aber auch Krisen, besser zu bewältigen. Gleichzeitig wird als natürliche Begleiterscheinung und auch Resultat einer systematischen Stärkenarbeit Empowerment ermöglicht. Empowerment, in der ursprünglichen Definition, bedeutet, dass Menschen (wieder) mehr Verantwortung für ihre eigenen Lebensentscheidungen übernehmen können (Goscha & Rapp, 2012). Dabei muss ausdrücklich betont werden, dass Empowerment nach eigenen Maßstäben und selbstbestimmt erfolgen soll. Wichtig ist, dass die Prinzipien der Stärkenarbeit eingehalten werden und auch nicht in ein übertriebenes Maß, welches Stress auslöst, ausufert.

Die reflexive Stärkenarbeit enthält somit den Appell, das eigene Umfeld und sich selbst wachsam und kritisch zu betrachten und sich dann aktiv für die erwünschten Veränderungen einzusetzen. Gerade in einer komplexen Welt, die Menschen immer wieder aufs Neue mit verschiedenen Anforderungen konfrontiert, ist es wichtig Persönlichkeiten zu festigen.

Mithilfe reflexiver Stärkenarbeit können Menschen nachhaltig gestärkt und resilienter werden. Diese bringen sich dann auch mit höherer Wahrscheinlichkeit politisch ein, führen positivere Beziehungen und schließen sich eher in Organisationen zusammen (Herriger, 2020). Der Nutzen der Stärkenarbeit kann sich dementsprechend von Einzelpersonen auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Menschen, die Selbstwirksamkeit erfahren und sich wohl in ihrer Haut fühlen, können also auch die gesellschaftliche Resilienz entscheidend verbessern.

Quellen

Asendorpf, J.: Persönlichkeit. Was uns ausmacht und warum. Berlin 2018

Ehlers, C.: Stärken neu denken. Die Kunst der stärkenfokussierten Zielarbeit in sozialen Handlungsfeldern. Opladen, Berlin, Toronto 2019

Ehlers, C.; Müller, M.; Schuster, F.: Stärkenorientiertes Case Management. Komplexe Fälle in fünf Schritten bearbeiten. Opladen, Berlin, Toronto 2017

Eysel, N.: Zwischen Selbstbestimmung und Anpassung in einem ökonomisierten Bildungs- und Gesellschaftssystem. Ambivalenz als ein handlungsleitender Faktor? In: von Felden, Heide (Hrsg.): Selbstoptimierung und Ambivalenz. Gesellschaftliche Appelle und ambivalente Rezeptionen. Wiesbaden 2020, S. 71 – 95

Fenner, D.: Selbstoptimierung. https://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/bioethik/311818/selbstoptimierung (veröffentlicht 2020, abgerufen am 23.10.2020)

Floyd, D.; Sullivan, W.: Animating Hope. An Essential Ingredient of Strengths-Based Practice. In: Dennis Saleebey (Hrsg.): The Strengths Perspective in Social Work Practice. (6. Aufl.). Boston 2013, S. 221 – 234

Goscha, R. & Rapp, C.: The Strengths Model. A Recovery – Oriented Approach to Mental Health Services. (3. Aufl.). New York 2012

Herriger, N.: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. (6. erw. und aktualis. Aufl.). Stuttgart 2020

Huber, M.: Resilienz im Team. Ideen und Anwendungskonzepte für Teamentwicklung. Wiesbaden 2019

Lubienetzki, U. & Schüler-Lubienetzki, H.: Lass uns miteinander sprechen. Psychologie der erfolgreichen Gesprächsführung. Berlin 2020

Ludwig, C.: Kritische Theorie und Kapitalismus. Die jüngere Kritische Theorie auf dem Weg zu einer Gesellschaftstheorie. Wiesbaden 2013

Mikutta, J. & Weigl, T.: Motivierende Gesprächsführung. Eine Einführung. Wiesbaden 2019

Saleebey, D.: Introduction. Power in the People. In: Saleebey, Dennis (Hrsg.): The Strengths Perspective in Social Work Practice. (6. Aufl.). Boston 2013, S. 1 – 24

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Resilienz Akademie | Resilienz durch StärkenarbeitMoana Neumann, B.A. Soziale Arbeit, ist freie, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Resilienz-Akademie. Seit Juni 2024 unterstützt sie die Recherchearbeit. Ihre Themen-Schwerpunkte lagen bereits im Bachelor-Studium im Bereich der Stärkenarbeit, unter anderem durch die Mitarbeit im Stärkenlabor der HAWK. Praxiserfahrungen und Theorie aufeinander zu beziehen, eine leichte Anwendbarkeit von Methoden und das Interesse am systemischem Denken sowie an Innovationen ist für sie in der Arbeit zentral. So absolvierte sie 2023 eine Weiterbildung zur Schreibtherapeutin und studiert seit Sommersemester 2024 nach zweijähriger Berufstätigkeit erneut im Master „Gesundheit und Innovation in der Sozialen Arbeit“.


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Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 240 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de) sowie des Resilienz-Podcasts Rethinking Resilience (www.Rethinking-Resilience.com).

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