Charakterstärke Weisheit bzw. Weitblick und Resilienz

Die Charakterstarke Weisheit kann auch als Weitblick oder Perspektive beschrieben werden und ist eine von 24 in der Positiven Psychologie identifizierten Charakterstärken. Sie beschreibt die Fähigkeit, über den Moment hinauszublicken, Handlungsfolgen abzuschätzen und Entscheidungen im Licht zukünftiger Möglichkeiten zu treffen. Es gibt viele weitere Dinge, die mit der Charakterstärke Weisheit in Verbindung gebracht werden können. Dazu zählen belesen zu sein, sich wirklich für die Welt, in der wir leben, zu interessieren und sich Wissen anzueignen, sich politisch zu engagieren sowie tiefgründige Beziehungen zu pflegen (Peterson & Seligman 2004).

Menschen, die wir als weise bezeichnen, wirken anziehend auf uns – und das zurecht. Sie können zum Beispiel besser Entscheidungen treffen, was auch im beruflichen Kontext Vorteile mit sich bringt. In der strategischen Unternehmensplanung ist das Einbeziehen verschiedener Perspektiven wichtig: So kann eine Führungskraft frühzeitig verschiedene Entwicklungen, wie etwa den Trend zur Digitalisierung, erkennen und proaktiv in IT-Infrastruktur und Schulungen investieren. Passiert dies schon bevor der Markt diesen Wandel vollständig vollzieht, ermöglicht das einen entscheidenden Vorsprung anderen Firmen gegenüber und stärkt die Resilienz. Mit einem vorausschauenden Blick ein Unternehmen zu leiten, ermöglicht eine visionäre Führung, langfristige resiliente Entwicklung und nachhaltigen Erfolg.

Warum ist die Charakterstärke Weisheit wichtig für die eigene Resilienz?

Weisheit ist ein Begriff, der schon seit Jahrtausenden in Religionen und Philosophien diskutiert wird. Seit den 1970er-Jahren ist sie aber auch immer mehr zu einem wichtigen Thema in der empirischen Forschung geworden. Allein deshalb ist klar, dass in der Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen und vorausschauend zu denken, verschiedene Potenziale schlummern.

Wenn Sie an einen weisen Menschen denken, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie eine ältere Person vor Augen haben, die reich an Lebenserfahrung und tiefen Einsichten ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn ältere Erwachsene weisen in mehreren Bereichen, die eng mit Weisheit zusammenhängen, höhere Werte auf als jüngere Menschen. Die Weisheit von älteren Menschen ist dabei nicht nur für sie selbst und ihr direktes Umfeld von Vorteil, sondern auch für die Gesellschaft von Nutzen.
Weisheit, auch im Sinne von Mitgefühl, hilft zum Beispiel dabei, individueller und gesellschaftlicher Einsamkeit entgegenzuwirken und somit allgemein das Wohlbefinden zu steigern. Gerade in Zeiten des rapiden Wandels, der Polykrisen und Wertekonfusionen ist die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts notwendiger denn je.

Weisheit wird aber auch durch die Teilhabe an einer Gemeinschaft erworben. So entstehen flexible persönliche Lebensgeschichten, die uns mit dem nötigen Rüstzeug ausstatten, Schwierigkeiten zu begegnen und ein Gefühl des Wohlbefindens langfristig aufrechtzuerhalten (Alexopoulos et al. 2024).

Was macht die Charakterstärke Weisheit aus?

Wissen ist zu wissen, dass eine Tomate eine Frucht ist. Weisheit ist, sie nicht in einen Obstsalat zu tun. – Miles Kington, britischer Journalist

Einigkeit in der Forschungswelt besteht darin, dass Perspektive und Weisheit sich von reiner Intelligenz unterscheiden. Sie gehen darüber hinaus. Weisheit umfasst Wissen in einem besonderen Ausmaß, ein geschultes Urteilsvermögen und Beratungskompetenzen, durch die das eigene Wissen geteilt werden kann.

Weise Menschen mit einem weiten Blick kennen sich selbst inklusive ihrer Stärken und Schwächen gut. Sie vereinen das Rationale und Emotionale, um gute Entscheidungen zu treffen. Sie erkennen Wechselwirkungen und Zusammenhänge und haben somit eine umfassendere Perspektive mit Sicht auf den wahren Kern von Problemen. Sie haben den Wunsch, einen positiven Beitrag für andere und die Gesellschaft zu leisten. Dabei schauen sie bei Überlegungen nicht nur auf sich selbst, sondern ebenso auf die Bedürfnisse anderer.

Andere Menschen wenden sich wiederum gerne an sie, wenn sie einen Rat brauchen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Einklang mit ihren persönlichen Werten handeln. Und schlussendlich tun sie das alles auf bodenständige Art und Weise, denn sie sind sich gleichzeitig bewusst, wo in ihrem Handeln und Wissen die Grenzen liegen (Peterson & Seligman 2004). Intellektuelle Demut und die Wahrnehmung und Wertschätzung von Unsicherheiten und Veränderungen sind also ebenso essenziell für eine wissensbasierte Reaktion auf die Herausforderungen des Lebens (Grossmann 2017).

Diese Charakterstarke verbindet also kognitive Klarheit mit emotionaler Stärke – sie umfasst nicht nur voraus zu denken, sondern anschließend auch gezielt zu handeln, mit Sinn und einem Ziel im Fokus. Weitblick ist ein vielschichtiges Persönlichkeitsmerkmal und zeichnet sich durch einen prozesshaften Charakter aus. Weisheit ist eine der Eigenschaften, die sich über längere Zeit hinweg (weiter)entwickeln, also das gesamte Leben lang. Weisheit schließt ganz grundsätzlich prosoziales Verhalten, Dankbarkeit und die Wahrnehmung eines Lebenssinns mit ein. Dadurch werden positive Beziehungen möglich – zu sich selbst und zu anderen Menschen (Alexopoulos et al. 2024).

Wie Sie die Charakterstärke Weisheit fördern können

Weise und unter Einbezug vieler Perspektiven zu denken und zu handeln, ist eine Eigenschaft, die veränderbar ist. Sie kann dementsprechend je nach Lebenserfahrung, je nach Situation und je Kontext stark variieren. Wir können sie aber dementsprechend auch bewusst trainieren (Grossmann 2017).

Die Weisheit ist grundsätzlich ein komplexes Persönlichkeitsmerkmal, das eng mit den Fähigkeiten zur Empathie und Mitgefühl, Emotionsregulation, Selbstreflexion, der Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven, Entschlossenheit, Optimismus, sozialer Beratungskompetenz und Spiritualität einhergeht. Diese Charakterstärke bietet dementsprechend viele verhaltensbezogene Ansatzpunkte zur Förderung (Alexopoulos et al. 2024).

Distanzierungstechniken anwenden

Situationen können sehr unterschiedliche Anforderungen an uns mit sich bringen und verschiedenes Verhalten auslösen. Besonders interessant ist dabei, dass selbstzentrierte Kontexte das weise Denken hemmen. Wie können Sie nun also Ihr Denken gegen solche Verzerrungen schützen, vor allem wenn Ihre Eigeninteressen sehr stark im Fokus stehen?

An dieser Stelle zeigt ein kognitiver Denkstil, der das eigene Ego in den Hintergrund rückt („ego-decentering“), große Potenziale (Grossmann 2017). Reflektieren Sie doch einmal, wie gut Sie Abstand von sich selbst in Situationen nehmen können, in denen Ihre persönlichen Bedürfnisse besonders laut werden. Gab es vielleicht schon Situationen, in denen Sie deshalb impulsiv gehandelt und sich hinterher geärgert haben, nicht überlegter gehandelt zu haben?

Strategien die hier hilfreich sind, sind zum Beispiel folgende:

  • Wechseln Sie die Perspektive: Wie würde eine außenstehende Person nun handeln? Was würde sich eine andere Person, die von meinem Verhalten betroffen ist, wünschen?
  • Bringen Sie gedanklich zeitlichen Abstand zwischen sich und die Situation: Wie würden Sie in einem Jahr die Situation bewerten? Was würden Sie sich wünschen getan oder nicht getan zu haben? Wäre diese Entscheidung überhaupt noch wichtig?
  • Handeln Sie entsprechend Ihrer übergeordneten Werte und nicht nach dem kurzfristigen Vorteil, den Sie sich verschaffen könnten.

Neu sortieren

Weitblick entsteht, wenn wir uns zu einem moralischen Charakter entwickeln. Damit wir Herausforderungen und Veränderungen in unserem Leben gut meistern und viel aus ihnen lernen können, muss die persönliche Lebensgeschichte immer wieder neu sortiert werden. Dies ist wichtig für die Entwicklung von Resilienz und für das Erleben von Sinn, auch im hohen Alter.
Wichtige Schritte für eine erfolgreiche narrative Neuordnung von „Daten“ sind folgende:

  1. Engagieren Sie sich in Gemeinschaften.
  2. Schätzen Sie die verschiedenen Fähigkeiten der Menschen in Ihrem Umfeld.
  3. Akzeptieren Sie Veränderungen und Einschränkungen. Das fällt dann leichter, wenn Sie Ihre Sichtweisen immer wieder und systematisch überdenken (Alexopoulos et al. 2024).

Weitblick bis ins hohe Alter kultivieren

blankÄltere Menschen sind deshalb häufig weise, weil sie in ihrem Lebensverlauf einen großen Pool an kumuliertem Wissen ansammeln und sich immer wieder an ihre positiven sowie negativen Lebenserfahrungen anpassen. Sie finden also immer wieder neue Wege, Selbstwirksamkeit zu schaffen.

Weisheit und Resilienz können grundsätzlich durch ein gesundes Altern unterstützt werden. Was Sie also schon heute in Ihre Gesundheit investieren, hat einen langfristigen positiven Einfluss.

Weitblick bzw. Weisheit und Resilienz entstehen außerdem auf der Basis eines kontinuierlichen Dialogs mit Gemeinschaften. Sich auszutauschen ist eine sehr wertvolle Ressource, um verschiedenste Erfahrungen wahrzunehmen und in die eigene Gedankenwelt zu integrieren. Dies nährt das Entstehen einer bedeutungsvollen Lebensgeschichte und eine reflektierte Beziehung zur Welt.
Wir können uns grundsätzlich in jedem Alter weiterentwickeln, denn unsere Gehirne sind darauf ausgelegt, bis ins hohe Alter Neues zu lernen und sich anzupassen, sie sind neuroplastisch. Für die Vitalität Ihres Gehirns ist es hilfreich, wenn Sie körperlich und psychosozial aktiv sind und bleiben (Alexopoulos et al. 2024).

Wozu führt die ausgelebte Charakterstärke Weisheit?

Weisheit ist eine wertvolle Ressource, um wichtige und komplexe Fragen über unsere Lebensführung und den Sinn unseres Lebens zu adressieren. Sie kann also auf existenzieller Ebene ansetzen. Ganz grundsätzlich fördert eine ausgeprägte Charakterstärke Weitsicht das Wohlbefinden und tut allen gut (Peterson & Seligman 2004).

Resilienz baut auf einem harmonischen Zusammenspiel von Anpassung und Stärkung auf. In unserer heutigen schnelllebigen Welt, die häufig den Fokus auf neue Innovationen und Effizienzsteigerungen legt, dürfen wir nicht unsere ureigene Fähigkeit uns selbst zu helfen und zu verbessern, vernachlässigen. Der Fokus auf die Stärkung der Weisheit könnte hier eine lohnenswerte Methode darstellen, da wir uns als Menschen ohnehin andauernd anpassen müssen. Warum sollten wir uns dann nicht bemühen, diese Prozesse zu unterstützen und zu erleichtern?

Ein Paradebeispiel und Vorbild für gelebte Weisheit sind die berühmten „centenarians“, Hundertjährige, die durch ihre außergewöhnliche Langlebigkeit auffallen. Teil dieser Langlebigkeit ist auch ein lebenslanger, gesunder Lebensstil sowie Persönlichkeitsmerkmale wie Resilienz, Weisheit, Optimismus, Selbstwirksamkeit und soziales Engagement. Von ihnen können wir uns also viel abschauen.

Klare Planung, resilientes Handeln und eine Sinnorientierung befähigen Menschen und Organisationen, nicht nur Krisen zu meistern, sondern aus ihnen gestärkt hervorzugehen und zukünftige Herausforderungen proaktiv zu formen. Weitsicht ist damit auch eine Zukunftskompetenz, gerade in einer Zeit, die von komplexen, globalen Herausforderungen geprägt ist.
In der Forschung gibt es aber noch Luft nach oben, denn Expert:innen aus verschiedenen Disziplinen sollten enger zusammenarbeiten, um ein umfassenderes Verständnis für und die Förderung praktischer Weisheit zu ermöglichen. Ein positiver Nebeneffekt davon wäre, dass das individuelle, aber auch das gesellschaftliche Wohlbefinden noch mehr gestärkt wird (Alexopoulos et al. 2024).

Besonders interessant für die Forschung ist auch der kulturelle Einfluss auf die Charakterstärke, denn die Kultur hat einen größeren Einfluss auf die Entwicklung von Weisheit als bisher angenommen. Hier könnte also noch viel Neues in Erfahrung gebracht werden. Es bestätigt auch, dass verschiedene Forschungsansätze zur Weisheit gemeinsam betrachtet werden sollten (Grossmann 2017).

Literatur

Alexopoulos, G.; Blazer, D.; Jeste, D.; Lavretsky, H.; Reynolds, C.; Sachdev, P. (2024). Wisdom, Resilience, and Well-Being in Later Life. Annual Review of Clinical Psychology. https://doi.org/10.1146/annurev-clinpsy-081423- 031855

Grossmann, I. (2017). Wisdom in Context. Perspectives on Psychological Science, 12(2), 233-257. https://doi.org/10.1177/1745691616672066 (Original work published 2017)

Peterson, C.; Seligman, M. (2004). Character Strengths and Virtues. A Handbook and Classification. Oxford University Press Vol. 25

Bildquelle: www.depositphotos.com: Happy senior man@IgorTishenko, Wisdom@Devon, Portrait of elderly woman@dimaberkut, Portrait of a owl on a wooden table@AI-generated

blankMoana Neumann, staatlich anerkannte Sozialarbeiterin (B.A.), ist freie, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Resilienz-Akademie. Seit Juni 2024 ist sie unterstützend in der Recherchearbeit tätig und beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Aspekten der Resilienz. Diese Erkenntnisse bündelt sie auch in Blog-Artikeln, die sie für die Resilienz-Akademie verfasst.
Ihre Themen-Schwerpunkte lagen bereits im Bachelor-Studium im Bereich der Stärkenarbeit, unter anderem durch die Mitarbeit im Stärkenlabor der HAWK. Praxiserfahrungen sowie Theorien zusammenzubringen und eine leichte Anwendbarkeit von Methoden sind für sie zentral. Auch das systemische Denken und die Neugier auf Innovationen sind ihr in der Arbeit wichtig. So absolvierte sie 2023 eine Weiterbildung zur Schreibtherapeutin und bildet sich nach zweijähriger Berufstätigkeit erneut im Master „Gesundheit und Innovation in der Sozialen Arbeit“ weiter.


Sebastian Mauritz - Resilienz-Akademie

Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 240 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de) sowie des Resilienz-Podcasts Rethinking Resilience (www.Rethinking-Resilience.com).

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