Multiresilienz ist direkt heraus gesagt die gesellschaftliche Kernkompetenz, welche die Menschheit in Zeiten globaler Krisen braucht. Seit März 2020 wird die Welt von der Coronakrise in Atem gehalten. Besonders auf individueller Ebene brachte dies die Notwendigkeit nach funktionaler Anpassung mit sich, sprich Resilienz.
Doch die Coronapandemie hat auch gezeigt, dass es auf globaler Ebene einen gelingenden Umgang mit unerwarteten und grundlegend verändernden Situationen geben muss. Hierfür führt der deutsche Krisen- und Resilienzforscher Karim Fathi den Begriff der Multiresilienz ein.
Warum die globale Gesellschaft Multiresilienz braucht
Die Globalisierung bringt viele wertvolle Vorteile mit sich. Allein der technische Fortschritt, der durch die internationalen Vernetzungen und die Marktwirtschaft vorangetrieben wird, ist etwas, von dem wir deutlich profitieren. Doch die Coronapademie machte uns deutlich, wie zerbrechlich die vermeintliche Stabilität unter unbekannten und unerwarteten Einflussfaktoren sein kann. Durch die Globalisierung zeigt sich die Welt als besonders volatil, unsicher, komplex und ambivalent in globalen Krisen. Das heißt die VUKA-Welt stellt angesichts globaler Krisen eine große Bedrohung dar.
Traurigerweise wird die derzeitig belastende Krise nicht die einzige bleiben. Beispielsweise die Folgen des Klimawandels stellen die globale Gesellschaft ebenfalls vor unbekannte und komplexe Herausforderungen, denen sich nicht allein einzelne Nationen entgegensehen, sondern die gesamte Erdkugel betroffen sein wird. Nun kann man sagen, wenn jede Nation individuell resilient ist und die Individuen der einzelnen Nationen ebenfalls, müsste es doch kein Problem geben. Dann würde jeder sehr gut mit den lokalen Auswirkungen globaler Krisen umgehen können.
Doch was für Auswirkungen solch eine angestrebte „eigenbrötlerische“ Resilienz einzelner Gesellschaften haben kann, zeigte sich ebenfalls zu Beginn der Coronakrise. Grenzschließungen, Lieferengpässe und internationaler Wettbewerb um global benötigte medizinische Güter zeigen, dass eine individuelle Resilienz und der Wunsch nach Unabhängigkeit der Nationen einer internationalen Zusammenarbeit zur gemeinsamen Bewältigung solcher Herausforderungen eher im Wege steht.
Die Lösung für einen gelingenden Umgang mit globalen Krisen lautet nach Fathi eine kooperative Multiresilienz.
Was ist Multiresilienz?
Aus der Prämisse heraus, dass multiple globale Risiken eben nicht allein von einzelnen Nationen bewältigt werden können, braucht es die Förderung einer multiplen Resilienz – einer Multiresilienz.
Nach Fathi (2019) ist Multiresilienz die Fähigkeit eines sozialen Systems, verschiedenen Arten von Krisen gleichzeitig zu widerstehen.
Eine an dieser Stelle berechtigte Frage kann sein, warum nicht allein das Konzept der Resilienz ausreicht, um den Umgang mit globalen Krisen zu beschreiben. Schließlich bedeutet Resilienz, wenn wir uns nur dessen Wortherkunft anschauen, das Zurückspringen in den Ursprungszustand nach äußerer Belastung. Von Individuum oder Gesellschaft ist hier zunächst keine Rede.
Doch genau in dieser Unschärfe liegt auch die Achilles-Ferse der Resilienz als wissenschaftlich definierbares Konzept. Denn es gibt keine einzelne klare Definition, was nun Resilienz ist, und was nicht. In unserer Übersicht der Resilienz-Definitionen finden Sie zahlreiche Beschreibungen von Resilienz, keine davon richtiger als die anderen.
Es braucht also allein schon eine semantische Trennschärfe, um das Konzept individuellen Umgangs mit Stressoren von dem gesellschaftlichen und globalen Umgang mit Krisen zu unterscheiden. Multiresilienz ist dabei nicht wie eine weiterentwickelte Form der Resilienz zu verstehen, sondern in ihr liegt der Fokus auf Kommunikation, Kooperation und Koordination stärker gewichtet als bei der individuellen Resilienz oder gar bei der organisationalen Resilienz.
Wie die Menschheit Multiresilienz fördern kann
In einem 2020 veröffentlichten Artikel beschreibt Karim Fathi „vier Organisationsprinzipien gesellschaftlicher Multiresilienz“. Diese sollen einen Anhaltspunkt dafür geben, sich nicht nur auf die Bewältigung bestimmter Krisenarten, wie beispielsweise Pandemien, zu konzentrieren, sondern die Grundflexibilität und Robustheit für unterschiedliche Krisenkontexte zu erreichen. Mit anderen Worten gibt er vier Prinzipien zur Stärkung der Multiresilienz an.
Prinzip 1: Dezentrale und zentrale Entscheidungsfindung und -umsetzung
Laut Fathi braucht es einen Systemaufbau, der dezentralistische mit zentralistischen Elementen vereint. So zeigte sich zum Beispiel in der Coronakrise, dass zentalistisch organisierte Länder schneller und einheitlicher in der Umsetzung der Maßnahmen waren. Wogegen hierzulande noch heute Verwirrung herrscht, welche Regelungen wo gerade aktuell sind. Allerdings haben auch dezentrale Organisationen einen großen Vorteil, da so schnelle direkte Handlungsfähigkeit und lokal angemessene Entscheidungen möglich werden. Es braucht für eine funktionierende Multiresilienz also das Sowohl-als-auch.
Prinzip 2: Kollektive Intelligenz
Viele Köche verderben den Brei, heißt es so schön im Volksmund. Allerdings könnte eine Annahme nicht falscher sein, wenn es um die kollektive Bewältigung globaler Krisen geht. Denn es braucht besonders für komplexe Probleme möglichst vielfältige Sichtweisen betroffener Akteure, um passende Lösungen zu finden. So ist die kollektive Intelligenz zum einen unsere beste Chance aus vergangenen Krisen zu lernen und zum anderen eine Notwendigkeit, um innovative Lösungen angesichts unbekannter Herausforderungen zu finden. Dazu braucht es gute Systeme, die staatsübergreifenden Wissenstransfer fördern.
Prinzip 3: Kollektiver Zusammenhalt
Wie wichtig kollektiver Zusammenhalt ist, haben wir nicht nur in der Coronakrise, sondern auch durch die jüngste Flutkatastrophe erlebt. Die soziale, wie physische Unterstützung hilft bei der Bewältigung lokaler wie auch globaler Krisen. Allerdings hilft der kollektive Zusammenhalt auch dabei, politische Maßnahmen „von unten“ umzusetzen, wie es sich teils bei der Einhaltung der Hygienevorschriften zeigt.
Prinzip 4: Individuelle Resilienz
Hieran zeigt sich, dass sich Multiresilienz und Resilienz nicht entgegenstehen, sondern vielmehr bedingen. So ist die individuelle Resilienz eines jeden Einzelnen eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung einer Multiresilienz. Da sich die psychische Widerstandfähigkeit trainieren lässt, muss es auch in der Verantwortung der Bildungspolitik liegen, individuelle Resilienz als Grundlage der Multiresilienz zu fördern.
Multiresilienz für den flexiblen Umgang mit globalen Krisen
Im Diskurs um eine gelingende Krisenbewältigung erlebter und noch kommender Krisen hat sich die Gesellschaft bisher sehr stark auf die Stärkung der individuellen Resilienz konzentriert. Genau so soll es in der Verantwortung des Einzelnen liegen, sich und andere vor dem Coronavirus zu schützen, oder die eigenen CO2 Emissionen zu senken und nachhaltig zu leben. Doch die Verantwortung als globalisierte Gemeinschaft kann nicht allein an Ihnen selbst hängen. Ebenso kann Resilienz so viel mehr sein als ein individueller Schutzschirm gegen Stress.
Wenn die Weltpolitik sich wirtschaftlich und sozialpolitisch auf globale Kooperation und globales Krisenmanagement fokussiert, dann wirkt die Multiresilienz schützend für alle. So kann eine kooperative Multiresilienz zu einer besseren Krisenantizipation und -reaktion führen, was wirtschaftliche und auch psychische Auswirkungen auf die Bevölkerung hat. Das soll die Eigenverantwortung eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin natürlich nicht mildern. Denn es liegt an uns, diese Multiresilienz einzufordern, angefangen bei der individuellen Resilienz.
Multiresilienz wie auch individuelle Resilienz soll keine Garantie sein, dass keine Krisen mehr kommen werden. Denn sie werden kommen, doch wir können als Menschheit entscheiden, wie wir damit global verantwortlich umgehen wollen.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).