Warum schauen wir auf Trauer?
Resilienz beschäftigt sich grundsätzlich mit der Frage, wie es Menschen schaffen, Krisen zu bewältigen und nach der Definition von Prof. Dr. Kalisch die „(…) psychische Gesundheit während und nach Widrigkeiten“ aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen (Kalisch 2017). Darüber hinaus fragen wir uns, welche Faktoren es sind, die zur weiteren Entwicklung und einem persönlichen, gegebenenfalls auch posttraumatischen Wachstum führen können.
Krisen können wie eine kraftvolle Welle auf uns hineinstürzten und unsere bisherigen Denkmuster und Glaubenssätze zutiefst erschüttern. Es kommt zur Veränderung. Wie diese Veränderung und unsere Verarbeitungsprozesse letztlich aussehen und welche Bewältigungsstrategien wir nutzen, ist dabei ganz unterschiedlich und bedarf hoher Sensibilität, insbesondere dann, wenn wir von schmerzhaften Erfahrungen – und von Trauer reden.
Trauer begleitet uns von Kindheit an, sie ist Teil unserer Resilienz, der Dynamik unseres Lebens. Und dennoch – Hand aufs Herz: Was wissen wir überhaupt von ihr? Sind wir uns bewusst, was Trauer uns mitteilen möchte? Und wohin sie uns vielleicht führen kann?
Was steckt hinter der Emotion Trauer?
Zuerst die Frage an Sie: Was ist für Sie Trauer? Wann erleben Sie Trauer und vor allem, wie denken Sie über Trauer?
Im Resilienz Training und Integrativen Emotionscoaching beschreiben wir Trauer als Primäremotion und „Hüterin der Wertbewahrung“. Primäremotion bedeutet, dass Trauer eine biologische Emotion ist, die u.a. physiologische Reaktionen im zentralen und autonomen Nervensystem hervorruft und durch einen Verlust von etwas Wertvollem ausgelöst werden kann.
Trauer als Hüterin der Wertbewahrung
Die Primäremotion Trauer ist nach den Ausführungen unserer Kollegen Dirk W. Eilert und Ruben Langwara maßgeblich dafür zuständig, uns zu erinnern. Sie ist eine Erinnerung an den emotionalen Wert, den wir mit der Person, dem Objekt oder Lebensereignis verbinden und lädt uns dazu ein, diesen Wert in unserem Herzen zu bewahren. (Empfehlung aktuelles Buch: Die Kraft unserer Emotionen. Resilient und stressfrei mit Mesource, 2022)
Wenn wir einmal genau hinsehen, entdecken wir Trauer in unterschiedlichsten Facetten. Am deutlichsten wird sie uns wohl im Verlust eines von uns geliebten Menschen oder Tieres. Wir können aber auch Trauer empfinden, wenn sich ein Sehnsuchtsziel nicht erfüllt, wir eine Trennung durchleben oder einen Menschen mit einer unheilbaren Krankheit begleiten. Hier führt die Vorstellung, diesen Menschen zu verlieren zu einer antizipierten Trauer. Letzteres kann verstärkt im Jugendalter zu einer Erschütterung führen – besonders dann, wenn die Trauer nicht gesehen oder sogar geleugnet wird.
Gerade in der Phase der Identitätsfindung sind Jugendliche stetig auf der Suche nach Beziehungen, Anerkennung und Sicherheit – gleichzeitig erleben sie Veränderungen und Abschiede im Schnelldurchlauf. Hier finden Ablöseprozesse statt, die eigenen Werte werden hinterfragt und Ziele für die Zukunft entwickelt. All das kann beispielsweise durch einen plötzlichen Trauerfall in der Familie, im Klassenverband oder Freundeskreis stark erschüttert werden. Hier kann sich Trauer beispielsweise in einer Art von Rebellion, Hilflosigkeit oder auch selbstschädigenden Verhalten ausdrücken.
Die Frage ist also grundsätzlich, wie Trauer angesehen und besprochen wird. Wird sie im Gegenteil im Verborgenem gehalten, können Gefühle von Verlassenheit, Schuld oder Scham sich intensivieren. Auch Verhaltensänderungen wie gesteigerte Aggressivität oder Demotivation sowie körperliche Symptome (beispielsweise Migräne, Bauchschmerzen, Müdigkeit) können Auswirkungen von verdrängter Trauer sein.
Trauer erkennen
Trauer ist dazu in der Lage, unseren ganzen Organismus in eine Art Tiefstatus zu versetzen, um neue Kraft zu sammeln, in dem unser Stoffwechsel und Muskelspannungen herunterfahren, wir uns zurückziehen und einen Ort der Ruhe suchen.
Auch im Weinen lassen wir los. Anstatt gegen Tränen anzukämpfen, führt Weinen (besonders dann, wenn wir die Tränen mit anderen Menschen teilen) zu einem Gefühl der Befreiung und verhindert, dass Stresssymptome sich weiter festsetzen. Die positiven Auswirkungen von Tränen sind vielseitig und können uns helfen auf psychosomatischer und spiritueller Ebene zu heilen.
Trauer kann sich wie erwähnt in ihrer Ausdrucksform je nach Altersgruppe und ggf. auch geschlechtsspezifisch unterschiedlich zeigen. Ihre Mimik ist dagegen eindeutig, die wir kulturübergreifend auf der ganzen Welt wiederfinden können. Im Gesicht erkennen wir Trauer durch das Hochziehen der Augenbrauen- Innenseiten, einen Blick nach unten, angehobenen Kinnbuckel und heruntergezogenen Mundwickel.
Unser „Kuschelhormon“ Oxytocin nimmt in der „sozialen Trauer“ eine besondere Rolle ein. Das merken wir zum Beispiel, wenn wir uns bei einer Trennung besonders nach Berührung sehnen, da neurobiologisch das Bindungshormon Oxytocin hier im Gehirn unterdrückt wird (Vgl. Langwara, Eilert 2022). Zuneigung, Verbundenheit, Berührung – besonders in Trauer brauchen wir sie. Berührung aktiviert unsere Sinne. Aus diesem Grund finden zum Beispiel auch Tiertherapeutische Angebote immer mehr Anklang in der Sozialen Arbeit und Gesundheitseinrichtungen.
Wie können wir Trauer begegnen?
Im Resilienz Training und Emotionscoaching wird der Blick besonders auf einen funktionalen Umgang mit Emotionen gerichtet, um unsere Anpassungsfähigkeit und Regulationsfähigkeit vor, während und nach Krisen zu stärken. Im Gegensatz zur dysfunktionalen Trauer, die den Fokus stark auf das Verlorene richtet und unsere Weiterentwicklung blockiert, bedeutet ein funktionaler Umgang mit Trauer, dass es uns gelingt, den Verlust anzunehmen und emotional den verlorengegangen Wert in unserem Herzen zu bewahren.
Durch Emotionsfokussiertes Coping können wir lernen, auch unangenehme Emotionen wie Trauer oder Angst in ihrer Bedeutung besser zu verstehen und mit ihnen –statt gegen sie zu arbeiten.
Ziel ist es, dass wir unsere Selbstregulation stärken und damit unser inneres Gleichgewicht und das Gefühl von Handhabbarkeit zurückerlangen, wodurch auch ein Verlust und Trauerphasen besser überwunden werden können. Denn gerade in Stress und Krisen vergessen wir häufig unsere Kompetenzen. Emotionsregulation ist eine der effektivsten Copingstrategien, durch die wir den Zugang zu unseren Ressourcen zurückgewinnen. Schon einfache Techniken wie die Resonanzatmung und der Butterfly Hug tragen zur Selbstruhigung bei und können trainiert werden.
Ansehen
Trauer schmerzt. Oft so sehr, dass wir meinen, es schlichtweg nicht aushalten zu können. Mit Blick auf einen Krisenverlauf befinden wir uns, nach der anfänglichen Schockphase, nun in der Phase, in der unsere Emotionen wie eine Welle auf uns zukommen und durcheinanderwirbeln.
Die Frage nach dem Warum nimmt hier ihren Raum ein – und hat unseres Erachtens auch volle Berechtigung in diesen Momenten gestellt zu werden. Es entsteht eine Leere – und die Sehnsucht, diese Leere irgendwie wieder zu füllen. Trauer zeigt uns, was uns wirklich wichtig ist. Sie führt uns in unserem Herzen zu den Dingen, mit denen wir Liebe und neuen Fragen zum Sinn im Leben verbinden.
Die Frage nach dem Wozu erhalten wir dann, wenn wir Trauer aus einer anderen Perspektive betrachten und ihr eine anderen Namen geben – wie die Überschrift der Wertbewahrung. Dieser Vorgang der Umdeutung wird als Reframing (NLP) oder auch „positive Reappraisal“ aus der Ericksonschen Hypnotherapie bezeichnet. Coping Strategien wie diese helfen uns, die Emotion Trauer anders zu bewerten und ihre Ressourcen zu erkennen.
Wenn wir Trauer empfinden, dürfen wir uns also einmal mehr fragen:
- Welchen Wert verbinde ich beispielsweise mit der Person, die ich vermisse? Ist es vielleicht die Geborgenheit, der Arm, der sich um einen legte und Wärme schenkte? Ist es das Abenteuer, die Inspiration? Oder der Humor – mit den schrägen Sprüchen? Es lohnt sich hier einmal hinzusehen. Erinnerungen, die hiermit wachgerufen werden, können ein Gefühl von Freude vermitteln.
- Wie kann ich diesen Wert in meinem Leben bewahren? Gibt es zum Beispiel ein Ritual, das ich mit diesem emotionalen Wert verbinde? Kann ich heute schon auf die Suche danach gehen?
Aussprechen
Wie oben beschrieben kann Verdrängung vielfältige psychische und physische Auswirkungen mit sich ziehen. Besonders in Krisenkreisläufen, die mit Trauer verbunden sind, kann der Austausch mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, äußerst wichtig sein. Nachbarschafszentren, Gemeinden, Vereine o.ä. bieten hier oft einen Raum für Austausch und Begegnung. In der Schule fangen Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen regelmäßig Trauerfälle auf und bieten, sofern es das System zulässt, hier Raum für Gespräch.
Unterstützung durch persönliche Begleitung im Trauerverlauf finden wir auch in der Sozialen Beratung oder klassischen Seelsorge, die vor allem in Kirchengemeinden, Hilfsorganisationen oder auch Krankenhäusern angebunden ist. Wichtig ist zu wissen: Es gibt diese Unterstützung. Man ist nicht allein. Die Google- Suche nach Beratungsstellen und Seelsorge im Wohnort ist aus unserer Sicht immer ratsam, um einen Anknüpfungspunkt zu haben. Ausgebildete Trauerbegleiter und Seelsorger reichen einem die Hand, wenn die eigenen Worte fehlen und teilen ihre Erfahrungswerte.
An dieser Stelle sei unbedingt betont, dass insbesondere bei einem Trauma eine psychologische Begleitung zu empfehlen ist, da eine Therapie den professionellen Rahmen bietet, das Geschehene zu verarbeiten und die seelische Gesundheit zu stärken. Sollten Sie sich gerade in einer schweren Phase befinden, können Sie sich immer an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111, 0800/111 0 222), die anonyme, kostenlose Beratung zu jeder Tages- und Nachtzeit und auch Mail- und Chat-Beratung anbieten.
Zeit geben
Trauer lässt uns erinnern und führt uns in die Stille und an Orte, an denen wir noch nie oder vielleicht schon sehr lange nicht mehr waren. Diese Orte können im Hier und Jetzt sein oder sich auch auf einer mentalen oder seelischen Ebene befinden.
Hierfür sich Zeit nehmen, in die Stille gehen und Trauer zu lassen kann sehr heilsam sein. Auch wenn uns gesellschaftlich häufig etwas anderes suggeriert wird oder wir Glaubenssätze und Antreiber in uns tragen, die uns vermitteln, jetzt müssten wir doch langsam wieder „funktionieren“. Trauer lässt sich zeitlich nicht einordnen. Sie hat ihre ganz eigene Zeit und diese ist ganz individuell.
Wohin führt uns Trauer?
Trauer wahrzunehmen, zu spüren, anzunehmen hilft und kann zu einer neuen inneren Ausrichtung führen und dem Bewusstsein, dass die Trauer jetzt da ist – und nicht für immer bleiben wird. Das Bewusstsein dafür ist im Sinne des Kohärenzgefühls zentral für unsere Resilienz. Gerade Menschen, die Leid durchlebt haben, nehmen nach der Dunkelheit, die Helligkeit oft wesentlich stärker wahr.
So wie Trauer sich in verschiedensten Facetten zeigt, erblühen häufig dann auch die Momente der Freude wieder in unserem Leben. Unser „resilienteres Ich“ zeigt sich dann hier von der Seite, die durch die Krise gewachsen ist und einen Zugang den Emotionen hat. Trauer können wir je nach Kontext also auch als eine Art Wegbereiter für neue Dankbarkeit und Ehrfurcht betrachten, die wiederum wahre „Booster“ für unsere Hormonausschüttung von Oxytocin und Dopamin sind und damit nachweislich unsere physische und psychische Gesundheit stärken.
„Wir sollen darauf vertrauen, dass sich unsere Trauer verwandelt: vom Schmerz zur Dankbarkeit, vom Alleingelassensein zur Erfahrung einer inneren Begleitung, und von der Trauer, die festhalten möchte, zu einer Trauer, die uns die Tiefe des Herzens führt, unser Herz weitet für die Menschen um uns herum, und die uns in den Grund der Seele führt, in dem wir Gott selbst als die Liebe erfahren, die uns nie verlässt. – Anselm Grün
Quellen:
- Eilert 2021: Integratives Emotionscoaching mit emTrace. Wie emotionale Veränderung wirklich gelingt.
- Langwara, Eilert 2022: Die Kraft der Emotionen. Resilient und stressfrei mit Mesource.
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Christina Comnick, M.A. Management–Education–Diversity (Sozial- und Gesundheitsmanagement), ist Kooperationspartnerin der Resilienz Akademie und Expertin für „Seelische Resilienz“. Gemeinsam mit Sebastian Mauritz entwickelt sie das Konzept und leitet die dazugehörige Fortbildung. Sie ist Resilienz-Trainerin & Coachin, Antigewalt- und Kompetenztrainerin und setzt sich seit ca. 15 Jahren für die Prävention seelischer Gesundheit und Krisenintervention ein. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Themen: Sinn, Spiritualität, Intuition, Emotionsregulation und Deeskalation. (www.christinacomnick.de)
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 200 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de).
Sehr interessant etwas über die Emotionen zu erfahren. Für mich ist Trauer gerade auch ein großes Thema. Aber ich finde, dass einem Hilfe auch sehr viel Kraft gibt.