Stress als gesellschaftliches Problem
Der Job ist heute tatsächlich Stressfaktor Nummer 1! 80 % der Deutschen leiden unter Stress, 32 % haben Dauerstress und 40 % rechnen damit, dass der Druck im persönlichen und beruflichen Umfeld in den nächsten Jahren weiter zunimmt (forsa-Befragung der Techniker Krankenkasse, 2009). Vor allem gut qualifizierte Arbeitskräfte wie Führungspersonen, Techniker*innen, Wissenschaftler*innen und Bürokräfte nehmen Spitzenpositionen auf der Stressskala ein (Europäische Umfrage über die Arbeitsbedingungen, 2000). In vier von fünf Unternehmen arbeiten Beschäftigte unter hohem Zeit- und Leistungsdruck. Die Uno meldet, dass sich Stress regelrecht zur Epidemie entwickelt und die Weltgesundheitsorganisation hat Stress zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt.
Unternehmen und Gesundheitssystem werden jährlich durch Frühberentungen, psychische Krankheiten und Fehlzeiten mit Milliarden Verlusten belastet. Rund 60 % der Fehlzeiten können auf beruflichen Stress zurück geführt werden (Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz). Außerdem gilt Stress nach Rückenschmerzen als das zweithäufigste berufsbedingte Gesundheitsproblem (Weißbuch 2006). Dabei sei mal kritisch dahingestellt, ob sich berufsbedingte Rückenschmerzen sauber von Stress trennen lassen. Glatte 60 % der Arbeitnehmenden glauben selbst an die negativen Auswirkungen ihrer Arbeit auf die eigene Gesundheit – sie fühlen sich erschöpft und geschwächt (D. Merllié und P. Paoli, 2002).
Überall lesen und hören wir Zahlen. Was stimmt, was ist fundiert, was unseriös, woran können wir uns halten? Sicherlich ist es schwierig, solch ein komplexes Konstrukt wie Stress in ein paar Zahlen zu fassen und ihnen dann uneingeschränkte Geltung einzuräumen. Das wird spätestens dann klar, wenn wir uns einmal ausgiebig mit der Fehlbarkeit von Statistiken und Untersuchungen auseinandersetzen. Allerdings können wir in dem ganzen Zahlen-Wust einen gewissen Trend erkennen. Einen Trend in Richtung eines „Zuviels“, manchmal auch kombiniert mit einem „Zuwenig“ – ein gesundheitsschädliches Ungleichgewicht. Immerhin werden tatsächlich 70 % aller Krankheiten mit Stress in Verbindung gebracht. Wir bemerken die negativen Auswirkungen überhöhter Anforderungen allerdings erst, wenn es zu spät ist.
Wie kommt es zu Stress?
„Stress ist unser ständiger Begleiter, so lange wir leben. Er sitzt mit uns am Tisch, er geht mit uns schlafen, er ist dabei, wenn leidenschaftliche Küsse ausgetauscht werden. Manchmal geht uns seine Anhänglichkeit auf die Nerven; dennoch verdanken wir ihm jeden persönlichen Fortschritt und erreichen durch ihn immer höhere Stufen geistiger und körperlicher Weiterentwicklung. Er ist die Würze des Lebens“.
Das schreibt der Urvater des Stressphänomens Prof. Dr. Hans Selye (1907-1982).
Der Begriff Stress stammt aus dem Englischen und bedeutet Druck, Anspannung, Anstrengung, Beanspruchung. Was steckt tatsächlich hinter diesem facettenreichen Konstrukt? Angesichts der vielen heute kursierenden Definitionen keine leicht zu beantwortende Frage. Im Grunde verbindet die meisten Erklärungen folgende Kernaussage: Stress ist ein Spannungszustand, der entsteht, wenn etwas Unerwartetes passiert oder wir uns einer neuen oder schwierigen Situation gegenüber sehen und erwarten, die Herausforderungen mit unseren zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht bewältigen zu können. Dazu gehören Lebensereignisse oder -situationen wie der Tod eines geliebten Menschen, ein folgenschwerer Verkehrsunfall, die Scheidung vom Ehepartner, aber auch Überforderungen im Job und Konflikte mit Kollegen. Ebenso können alltägliche Ärgernisse an der Stressreaktion des Organismus beteiligt sein, also Dinge, die für sich genommen eher unerheblich wirken, wie der allmorgendliche Verkehrsstau auf dem Weg zur Arbeit, störende Geräusche oder abwertende Kommentare von Kollegen.
Stress als biologisches Prinzip
Im Vordergrund steht – angeregt durch die Überlegungen des Stressforschers Richard Lazarus – die subjektive Bewertung der jeweiligen Situation. Stress entsteht im Kopf und zwar dann, wenn bewusst oder unbewusst ein Kontrollverlust über das potenzielle Stressereignis wahrgenommen wird, weil die verfügbaren Möglichkeiten als unzureichend für die Anforderung beurteilt werden. Man merkt, dass man etwas nicht schafft. Dann erst reagiert unser Körper. „Entscheidend ist nicht, was mit jemandem geschieht, sondern wie er es aufnimmt.“ (Prof. Dr. Hans Selye)
Allerdings vernachlässigen die heutigen Definitionen, dass dieser Bewertungsmechanismus nicht zwangsläufig immer greift. Denn auf physiologische Stressoren, die direkten Einfluss auf unsere Zellen nehmen – sei es mangelnder Sauerstoffgehalt in der Luft, Sonneneinstrahlung oder Bewegung der Muskeln – reagiert der Organismus reflexartig und ohne komplizierte Umwege. Stress kann dementsprechend jeder erdenklichen Situation entspringen, die unseren Körper vom Normalzustand abweichen lässt und Anpassung verlangt – egal ob kognitive Beurteilungsprozesse zwischen-geschaltet sind oder eben nicht. „Der biologische Stressmechanismus läuft immer dann ab, wenn der Körper gefordert wird.“ (Prof. Dr. Hans Selye)
Flucht oder Kampf – Die Stressreaktionen
Vor Millionen von Jahren bewahrte der Stressmechanismus unsere Vorfahren vor dem sicheren Tod. Standen sie auf der Jagd einem Säbelzahntiger oder einem Mammut gegenüber, mobilisierte ihr Körper innerhalb von Sekunden alle verfügbaren Ressourcen, damit sie handeln konnten. Kampf oder Flucht! Die körperliche Bewegung regulierte ihr Stresssystem wieder herunter und brachte den Organismus in seinen Gleichgewichtszustand zurück.
Heute hingegen ist es anders: Die Arbeit ist geistig-kreativer Natur und entbindet weitgehend von körperlicher Aktivität. Das heißt, der Stress wird nicht ausgelebt und staut sich an. Während der Urzeitmensch seine Keule schwang, um den Stress zu minimieren, hauen Menschen heute ihre PCs in Stücke – sie haben keinen körperlichen Ausgleich mehr für die bereitgestellte Energie.
Oder aber die Reaktion läuft ins Leere, so dass sich die freigesetzten Energien dauerhaft gegen den eigenen Körper richten. Die vielen Stressoren, mit denen wir es heute zu tun haben wie Termindruck oder Konflikte lassen den Körper in chronischer Alarmbereitschaft verharren. Langfristige Folgen: Ermüdung, Erschöpfung, Zusammenbruch. Was einst natürlich und lebensnotwendig war, wird heute zur Bedrohung. Wir brauchen dringend einen Ausgleich, sonst gehen wir unter.
Stress als Überlebensinstinkt
Stress ist eine Notfallreaktion, die zur Sicherung des Überlebens innerhalb der nächsten Minuten bestimmt ist. Der Organismus kann durch die Aktivierung seines Alarmsystems blitzschnell auf drohende Gefahren reagieren – mit verbesserter Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft. Die aktuelle Situation – ein drängender Abgabetermin, ein Konfliktgespräch oder ein Stau – löst Signale aus, die in das limbische System unseres Gehirns wandern. Dort werden sie bewusst oder unbewusst mit unseren Vorerfahrungen verglichen und als bedrohlich oder unbedenklich eingestuft.
Denken wir an den Steinzeitmenschen in Angesicht eines Säbelzahntigers: Innerhalb von Sekunden wird sein gesamter Körper mit Sauerstoff und Blutzucker versorgt, seine Pupillen und Bronchien weiten sich, er atmet schneller, seine Muskeln spannen sich an, er beginnt zu schwitzen und verspürt Angst. Seine Sinne schärfen sich und sein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Funktionen, die der Urzeitmensch in dieser Notsituation nicht benötigt wie Immunabwehr, Verdauungs- und Sexualfunktionen, werden gehemmt. Es geht um die Rettung des Organismus in genau diesem Moment – Kampf oder Flucht!
In Wirklichkeit sind die Regelkreisläufe erheblich komplexer. Verschiedenste Botenstoffe, Hormone, Zellen und Prozesse sind daran beteiligt und sorgen für das körperliche Gleichgewicht. Die fein aufeinander abgestimmten Selbstregulationsmechanismen machen bei dauerhafter Alarmbereitschaft allerdings schlapp, denn das System ist lediglich zum Überleben in akuten, kurzen Stressphasen gemacht.
„Stress ist ein zweischneidiges Schwert. Wir brauchen ihn, um einen einzigen Tag zu überleben. Gleichzeitig kann er Menschen zum Verhängnis werden.“ – Stressforscher Bruce McEwan von der Rockefeller University
Diese Erklärung schließt ein neutrales Verständnis von Stress ein. Tatsächlich handele es sich zunächst um ein biologisches Prinzip, bestätigt Tobias Esch, Stressforscher an der Hochschule Coburg und der State University von New York. Und mehr noch: Stress ist ein lebenserhaltender Prozess, der die Funktionstüchtigkeit und das körperliche Gleichgewicht unseres Organismus durch ausgeklügelte Anpassungsmechanismen sichert. „Wir brauchen Stress, um zu leben.“ (Peter Heilmeyer, Leiter der Reha-Klinik Überruh in Isny bei Ravensburg und Autor des Bestsellers „Gesund durch Stress“) Beispielsweise bedeutet jegliche Art von Aktivität Stress für unsere Zellen, weil sie den Organismus sanft schädigen und die gezielten Gewebsläsionen den Austausch alter, funktionsgeminderter Zellen durch neue und leistungsfähigere anregen. Außerdem lernen wir durch Stress. Während wir Anforderungen bewältigen, generieren wir Handlungsalternativen, die in der nächsten Situation wieder angewendet werden können. „Stress sorgt dafür, dass wir uns entwickeln.“ (Joachim Kugler von der Technischen Universität Dresden)
Vor dem Hintergrund der vorangehenden Erläuterungen bildet Selyes Definition von Stress eine Zusammenfassung, die kaum mehr missverstanden werden kann: „Stress ist die Summe aller Adaptationsvorgänge und Reaktionen körperlicher wie psychischer Art, mit denen ein Lebewesen auf seine Umwelt und die von innen und außen kommenden Anforderungen reagiert.“
Was bei Stress im Körper passiert
Bei Gefahr wird der Hypothalamus aktiviert und damit auch zwei wichtige Signalbahnen: das schnell reagierende sympathische Nervensystem mit dem Nebennierenmark (SAM), welches Adrenalin und Noradrenalin in den Blutkreislauf freisetzt, und die etwas langsamer funktionierende Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), die eine entscheidende Rolle bei der Cortisolausschüttung spielt.
Adrenalin steigert die Reaktionsbereitschaft, den Sauerstofftransport, die Kraftentfaltung und die Energiebereitstellung – erhöhter Herzschlag, erweiterte Pupillen und Bronchien, gesteigerte Atemfrequenz, mit Sauerstoff und Blutzucker versorgte Muskeln, aktiviertes Gehirn, verstärkter Schweißfluss und erleichterte Blutgerinnung bringen den Körper auf Startposition.
Etwas verzögert schüttet der Hypothalamus CRH und Vasopressin in die Blutbahn. CRH erzeugt Angst und eine Schärfung der Sinne, erhöht die Aufmerksamkeit, führt zu Appetitlosigkeit und zur Verringerung der Libido. Angekommen an der Hypophyse, dem Hormonzentrum des Gehirns setzt CRH das Stresshormon ACTH frei, das über den Blutkreislauf das Nebennierenrindenmark erreicht und dort die Produktion und Aussonderung von Glucocorticoiden, hauptsächlich Cortisol, aktiviert. Cortisol – ein kleines, aber effektives Mittelchen, um den Körper in Aufruhr zu bringen. Es unterstützt die Wirkungen der SAM-Achse. Außerdem erhöht es die Zuckerkonzentration im Blut, stellt Fettsäuren für den Energiestoffwechsel bereit und hemmt Entzündungsreaktionen sowie Teile des Immunsystems.
Unser Organismus ist ein selbstregulatives System. Deshalb existieren viele negative Rückkopplungsmechanismen, die den Körper wieder in einen Gleichgewichtszustand zurück bringen. Neben seinen aktivierenden Wirkungen hemmt Cortisol die Bildung der Stresshormone ACTH und CRH. Andere, zeitlich etwas verzögert abgegebene Hormone wie schmerzdämpfende Opioide und das Antistresshormon Oxitoxin, Funktionen des Parasympathikus und der langsame Abbau von Adrenalin und Noradrenalin durch Enzyme steuern ebenfalls der Aktivierung entgegen.
Resilienz und Stresssymptome
Diese biologischen Vorgänge bekommen wir natürlich nur in ihren Auswirkungen bei fehlender Regeneration zu spüren. Wenn wir Stress nicht abbauen können, äußert sich das in den verschiedensten Symptomen:
Mental
- Irritationen und Aggressionen
- Angst und Furcht
- Übererregbarkeit und Impulsivität
- Emotionale Instabilität
- Depression
- Langeweile
- Konzentrationsprobleme
- Müdigkeit
- Gedankenüberflutung
Verhalten
- Erhöhter Konsum von Alkohol, Tabak, Kaffee und Medikamenten
- Exzessives Fernsehen
- Schlafstörungen
- Gestörtes Ernährungsverhalten
- Sexuelle Probleme
- Bewegungsverweigerung
- Aufschieberitis
- Delegationshemmung
- Chronischer Zeitdruck
Körper
- Herzklopfen, Zittern, nervöse Ticks
- Zähneknirschen, trockener Mund
- Verstärktes Schwitzen
- Magen-Darm-Probleme
- Steifer Nacken, Rückenschmerzen
- Migräne oder Spannungskopfschmerzen
- Schnupfen, kalte Füße und Hände
- Allergien oder Asthmaanfälle
- Hautprobleme
- Kieferverspannung
- Schnelle, flache Atmung
- Druckgefühl im Hals und Kopf
- Druckgefühl in der Herzgegend
Stress regulieren mit Resilienz
Nun stellt sich abschließend die Frage: Wie sorgen wir dafür, dass Stress aktivierender Entwicklungsgehilfe ist und kein hemmendes Gesundheitsrisiko? Die Antwort ist Resilienz. Eine starke Resilienz unterstützt den Organismus dabei, Stress tatsächlich nur als Kurzzeit-Notfallsystem vom Körper genutzt wird. Mit anderen Worten, in akuten Stressituationen können wir die bereitgestellte Energie nutzen und überschüssige Energie nach der Situation abbauen.
Eine starke Resilienz umfasst zwei Aspekte, die dabei helfen:
- Situationen werden weniger schnell als bedrohlich wahrgenommen und lösen dementsprechend weniger schnell oder in geringerer Form Stress aus. Wir regulieren Stress schon vor der biologischen Stressreaktion mental herunter.
- Es stehen Regenerationstechniken zur Verfügung, sodass die Stressreaktionen effizient abgebaut werden können.
Resiliente Menschen schaffen es, Ihren Stress durch Bewertungsmuster und auch durch aktive Regeneration herunter zu regulieren. So kommt es gar nicht erst zu den oben beschriebenen Stresssymptomen oder Langzeitfolgen wie Burn-out. Aus diesem Grund ist Resilienz nicht nur individuell eine wichtige Fähigkeit für ein entspannteres und gesünderes Leben. Es liegt auch in der Verantwortung von Arbeitgebenden, Resilienz zu fördern und Leistungsfähigkeit damit aufrecht zu erhalten.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich mit über 50 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen austauscht (www.Resilienz-Kongress.de).