Serendipität ist die Fähigkeit, etwas Wertvolles zu finden, obwohl man nicht danach gesucht hat oder gar nicht erst auf der Suche war. Vielleicht kennen Sie die Szene aus dem Film „Harry Potter und der Halbblutprinz“, in der Harry etwas Wichtiges von seinem Zaubertränkeprofessor braucht. Dazu trinkt er den Trank Felix Felicis, auch als „flüssiges Glück“ benannt. Und satt geradewegs zu seinem Zaubertränkeprofessor zu gehen beschließt Harry, zum Unverständnis seiner Freunde, seinen alten Freund Hagrid zu besuchen. Durch verschiedene Zufälle kommt Harry letztendlich an da, was er braucht, ohne es jedoch auf direktem Weg einzufordern. Das ist Serendipität.
Warum beschäftigen wir uns mit Serendipität?
Manchmal kommt es uns so vor, als hätten manche Menschen mehr Glück im Leben als andere. Als wäre Zufall etwas, das diesen glücklichen Menschen eher holt. Dabei ist Serendipität kein Ereignis, sondern eine Fähigkeit, für die wir keinen Trank brauchen, sondern die wir trainieren können. Und das ist in einer Zeit wie diesen eine sehr wertvolle Fähigkeit, wenn wir resilienter mit Stress, Problemen und Krisen umgehen wollen.
Wir leben in einer Welt, die von Komplexität, Schnelllebigkeit, Vernetzung und konstantem Wandel geprägt ist. Damit einher gehen viele Probleme und Herausforderungen, denen wir noch nie begegnet sind und für die wir anpassungsfähig sein müssen, um mental, emotional, körperlich und seelisch gesund zu sein und zu bleiben. Mit anderen Worten, wir brauchen Resilienz. Die Fähigkeit zur Serendipität unterstützt uns dabei. Denn das Öffnen für das Unerwartete kann auf der einen Seite Stress minimieren und auf der anderen Seite zur Kreativität und Innovation bei der Lösungsfindung beitragen.
Serendipität und Stressregulation
Unser Gehirn funktioniert so, dass wir permanent eine Vorhersage der Welt treffen. Wir haben uns im Laufe unseres Lebens Muster angeeignet und Modelle der Welt und von uns Selbst erstellt, aus denen wir rund um die Uhr Erwartungen generieren. Das soll dazu beitragen, dass unser Gehirn so wenig Energie wie möglich verbraucht. Denn auf Unbekanntes reagieren, erfordert Arbeit unseres Gehirns und das könnten wir energetisch nicht 16 Stunden am Tag leisten.
Das führt aber auch dazu, dass, wenn etwas völlig unerwartet ist, unser System mit Stress reagiert. Zunächst mit einer leichten, aktivierenden Form. Doch je größer uns das Unbekannte vorkommt und je Problembehafteter wir es sehen, desto mehr reagiert der Körper mit Stress und das kann zur Belastung werden.
Serendipität sorgt dafür, dass wir das Unbekannte nicht angsterfüllt betrachten, sondern es umarmen können. Es ist die Offenheit für Neues gepaart mit einer Haltung, die Connirea Andreas, Entwicklerin von The Wholeness Work®, durch und durch lebt: „Ist das nicht interessant?“. Allein so ein kleiner Satz und die Erwartung der Möglichkeit, dass im Unerwarteten auch etwas Wertvolles zu finden sein kann, sorgen dafür, dass wir länger in dieser leichten Form des Stresses bleiben, länger aktiviert sind statt uns überfordert zu fühlen.
Kreative und innovative Lösungsfindung durch Serendipität
In einer Welt, die sich ständig verändert und in der Herausforderungen oft komplex sind, ermöglicht Serendipität den Blick über den Tellerrand, was wiederum den Weg für Innovationen ebnet.
Schließlich sind es gerade die nicht geplanten und unerwarteten Momente, die unser Denken herausfordern und uns dazu bringen, unsere bisherigen Annahmen und Modelle der Welt in Frage zu stellen. Wenn wir auf ein unerwartetes Ergebnis oder eine neue Information stoßen, werden wir gezwungen, unsere Denkmuster zu überprüfen und möglicherweise neue Verbindungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Ideen herzustellen. Diese unerwarteten Verknüpfungen können zu völlig neuen Einsichten und Herangehensweisen führen, die den Grundstein für kreative Lösungen legen.
Es ist leicht, sich in festgefahrenen Denkmustern und gut geübten Arbeitsweisen zu verlieren. Wenn wir uns aber den Zufällen der Welt öffnen, kann ein unerwartetes Ereignis oder eine überraschende Entdeckung jedoch einen Wendepunkt darstellen, der uns dazu zwingt, uns mit neuen Perspektiven und Techniken auseinanderzusetzen. Indem wir uns diesen Herausforderungen stellen und lernen, das Unerwartete zu schätzen, können wir uns weiterentwickeln und Innovationen in unsere Arbeit einbringen.
Darüber hinaus kann Serendipität als Katalysator für Neugierde dienen. Wenn wir etwas Unerwartetes entdecken, wird oft unser Interesse geweckt und wir sind motiviert, tiefer zu graben, mehr zu erfahren und das Unbekannte zu erkunden. Diese Neugierde treibt die kreative Erforschung voran und öffnet die Tür zu innovativen Ansätzen, die uns sonst vielleicht entgangen wären.
Was ist Serendipität?
Wie bereits erwähnt wird Serendipität oft mit Glück oder auch mit Zufall gleichgesetzt. Doch das trifft es nicht ganz. Denn Serendipität ist kein Event, sondern eine Fähigkeit.
Das Wort wurde ursprünglich von Horace Walpole im Jahr 1754 geprägt, der es an ein persisches Märchen namens „Die drei Prinzen von Serendip“ anlehnte. Im Märchen beschenkt der König seine Söhne nicht mit materiellen Dingen, sondern lehrt sie eine extrem gute Auffassungsgabe zu kultivieren. Später gelingt es den Prinzen schließlich so, einem Kameltreiber sein verloren gegangenes Kamel exakt zu beschreiben und auch wiederzufinden, obwohl sie das Tier nie gesehen hatten. Sie nutzten dafür nur ihre Aufmerksamkeit und Kombinationsfähigkeit.
Es waren also zufällige Entdeckungen auf dem Weg, die den drei Prinzen halfen. Und diese zufälligen Entdeckungen sind es, die den Begriff heute ausmachen.
Serendipität in der Forschung
Gerade in der Forschung bekommt Serendipität oder das Serendipitäts-Prinzip eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Besonders der Stressforscher Walter Cannon trug einen großen Teil dazu bei, dass die Forschung ihren Blick auf dieses Phänomen legte (Cannon, 1945). Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen die Wissenschaftler:innen eine bahnbrechende Entdeckung machen, obwohl sie danach nicht auf der Suche waren. Eines der bekanntesten Beispiele aus der Forschung ist wohl die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming. Er bemerkte, dass ein Schimmelpilz, der zufällig in einer Petrischale wuchs, Bakterien abtötete.
Manche Beispiele enthalten dabei mehr Wahrheit als andere – Sicher kennen sie die Geschichte, wie Sir Isaac Newton ein Apfel auf den Kopf fiel und er daraufhin das allgemeine Gravitationsgesetz erfand. Wie viel Wahrheit daran ist, ist unklar. Fest steht allerdings, dass Wissenssuche eng verknüpft zu sein scheint mit dem Finden von Dingen, nach denen ‚eigentlich‘ nicht gesucht wurde.
Heute beschäftigt sich besonders die soziokulturelle Forschung mit dem Phänomen und versucht herauszufinden, wie Serendipität Zustande kommt. Dabei ist die große Herausforderung: Wie beforscht man den Zufall? Erste Erkenntnisse zeigen, dass es hier viel weniger auf die Erhöhung von Wahrscheinlichkeit von glücklichen Zufällen drauf ankommt, als auf den Menschen, dem diese Zufälle begegnen (Lindner, 2012).
Der Faktor Mensch
„Entdeckung bedeutet, zu sehen, was alle anderen gesehen haben, aber zu denken, was niemand anderes gedacht hat.“
– Albert Szent-Györgyi, Nobelpreisträger für Medizin, Entdecker der Ascorbinsäure
Das Zitat zeigt sehr schön, dass glückliche Zufälle immer wieder und überall passieren, doch sie auch zu nutzen, macht wahre Serendipität aus. So erklärte es auch Walter Cannon frei übersetzt: „In den Bereichen der Beobachtung begünstigt der Zufall nur den vorbereiteten Verstand“. Es ist der Faktor Mensch, der Serendipität erst ausmacht. Deshalb bezeichnen wir es auch als Fähigkeit und nicht als Zustand. Anders, als wir das Glück verstehen, das uns „zufällt“ oder das wir es „haben“.
Das Erkennen von Serendipität erfordert, wie es im Märchen der drei Prinzen der Fall ist, Aufmerksamkeit. Es ist notwendig, aufmerksam und wachsam gegenüber den Informationen und Möglichkeiten zu sein, die sich uns präsentieren. Oft sind es feine Details oder scheinbar nebensächliche Beobachtungen, die, wenn sie beachtet werden, zu wertvollen Entdeckungen führen können.
Darüber hinaus erfordert die erfolgreiche Nutzung von zufälligen Entdeckungen eine offene Denkweise. Menschen, die flexibel denken und bereit sind, ihre bisherigen Annahmen und Vorstellungen in Frage zu stellen, sind besser in der Lage, das Potenzial eines unerwarteten Fundes zu erkennen. Eine fixierte oder geschlossene Denkweise könnte dagegen dazu führen, dass man eine serendipitäre Entdeckung übersieht oder abtut.
Schließlich ist auch die Fähigkeit zur Verknüpfung von scheinbar unzusammenhängenden Ideen entscheidend. Serendipität tritt oft auf, wenn zwei oder mehr unabhängige Gedankenstränge auf eine neue und innovative Weise miteinander verbunden werden.
Wie können wir Serendipität in unserem Alltag kultivieren?
Nun stellt sich die Frage, wie können wir diese Fähigkeit zur Serendipität in unserem Alltag kultivieren? Wie können wir Wertvolles im Unerwarteten finden?
Prof. Dr. Christian Busch ist Experte auf dem Gebiet der Serendipität und Bestsellerautor des Buches „The Serendipity Mindset. The Art and Science of Creating Good Luck“. Er war auch Speaker zu diesem Thema beim Resilienz Kongress 2021. Wenn Sie seinen Beitrag verpasst haben und gerne noch schauen möchten, können Sie hier das Kongresspaket (mit noch vielen weiteren spannenden Vorträgen zum Thema mentale und körperliche Stärke) erstehen: www.resilienz-kongress.de
Hier ein kleiner Auszug aus seinen Erkenntnissen.
Serendipität als Prozess erkennen
Für die Kultivierung im Alltag ist es zunächst notwendig zu erkennen, dass es eben kein Ereignis ist, das „kluges Glück“ wie Busch es beschreibt, möglich macht. Sondern, dass Serendipität ein Prozess ist. Dieser Prozess besteht aus drei Prozessschritten, die von einer bestimmten Situation zu einem serendipitären Fund führen.
- Serendipitäts-Trigger: Ein Auslöser, der nicht mit unseren Erwartungen übereinstimmt. Es ist sozusagen ein Vorhersagefehler des Gehirns, der aber noch neutral bewertet und zunächst einfach aufmerksam wahrgenommen wird.
- Punkte verbinden: Die Fähigkeit, der Erkenntnis eine Bedeutung zu geben und Konnektivität herzustellen.
- Beharrlichkeit: Wir müssen mit der Erkenntnis abschließend auch etwas anfangen, uns tiefer mit dem Fund beschäftigen und weiter denken, um es in etwas Verwertbares zu verwandeln, wie beispielsweise ein Produkt.
Busch betont, dass die Erkenntnis dieses Prozesses die Voraussetzung ist, dass wir jeden dieser einzelnen Schritte trainieren und aktiv beeinflussen können.
Skills, die Serendipität ermöglichen
Nach Busch sind es drei Skillsets, die uns dabei helfen, kluges Glück im Alltag häufiger zu erleben und daraus Handlungen zu generieren. Diese sind das Erkennen, das Verbinden und das Umsetzen.
Erkennen braucht vor allem die bereits angesprochene Aufmerksamkeit – dass wir mit einem wachen Geist durch die Welt laufen. Und auch die Neugier und Offenheit, auf Dinge zu stoßen, nach denen wir nicht gesucht haben. Hier hilft es die Emotion Ehrfurcht, als stärkste wissenssuchende Emotion, täglich zu aktivieren. Das Verbinden erfordert Kreativität, aber auch eine Art des Scharfsinnes und der Weisheit, auf bereits bestehende Wissensnetzwerke zuzugreifen und scheinbar unzusammenhängende Ideen zusammen zu bringen (divergentes Denken). Abschließend braucht die Umsetzung sowohl Selbstreflexion und Selbstwirksamkeit als auch soziale Fähigkeiten, um Ideen real werden zu lassen.
Sein Tipp ist das Führen eines Serendipitäts-Tagebuchs. Hierin halten Sie fest, was Ihre Interessen sind, was Sie gerade neugierig macht. Wenn Sie diese Liste im Hinterkopf haben, können Sie die in Gesprächen leichter einfließen lassen, was Ihnen Momente des Zufalls eröffnet. Zum Beispiel lassen Sie bei einer Vorstellungsrunde nicht nur Ihre üblichen Daten fallen, sondern erwähnen nebenbei noch, dass Sie sich gerade für Resilienz und mentale Gesundheit interessieren. Vielleicht kommt dann von einer Kollegin so ein Satz wie: „So ein Zufall, ich habe mich jetzt für ein spannendes Seminar bei der Resilienz Akademie Göttingen angemeldet“ ;)
Halten Sie ebenfalls in diesem Tagebuch fest, was Sie davon abgehalten hat, Momente mit Serendipitäts-Trigger zu nutzen. Vor allem innere Glaubenssätze sind hier meistens Grund für Zurückhaltung bei der Umsetzung innovativer Ideen. Hier können Sie mit einem Resilienztraining wunderbar ansetzen und die Chance zur Serendipität erhöhen.
Abschließend können wir auch dazu beitragen, Serendipität für andere zugänglicher zu machen. Gerade im Führungskontext ist beispielsweise die psychologische Sicherheit ein maßgeblicher Faktor, um Mitarbeitenden zu klugem Glück zu verhelfen. So schrieb Goethe schon:
„Wenn wir die Menschen nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter. Wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“
Wozu wir mehr Serendipität in unser Leben lassen sollten
Wir können nur einen kleinen Teil unseres Lebens planen, und diesen Plan dann auch umsetzen. Bei dem ganzen Rest müssen wir mit dem Ungewissen umgehen und hier hilft Serendipität, im wahrsten Sinne das Beste aus dem Unerwarteten zu machen. Sie stärkt unsere Resilienz, da sie dabei hilft, uns mental flexibler und anpassungsfähiger zu machen. Das hilft uns besonders im Umgang mit unerwarteten Herausforderungen, die potenziell eine große Menge Stress auslösen können.
Allerdings hilft Serendipität nicht nur dabei, unsere Modelle der Welt zu erweitern für mehr Resilienz. Sie hilft uns auch dabei, uns persönlich weiterzuentwickeln. Wir erweitern unseren Horizont, was zu neuen Hobbys, Interessen oder auch Fähigkeiten führen kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Serendipität zu einem erfüllteren Leben beiträgt. Wenn wir im Unerwarteten Schätze entdecken können, hilft uns das dabei gesünder und resilienter mit Unsicherheit umzugehen und stärkt sogar noch unser persönliches Wachstum.
Quellen
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- Cannon, W. B. (1945): The way of an investigator. New York, W.W. Norton.
- Lindner, R. (2012): Serendipity und andere Merkwürdigkeiten. VOKUS. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften, 22(1), 5-11.
Bildquellen:
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- Depositphotos.com: Having an idea @ alphaspirit, kreatives Geschäft @ alphaspirit, bunte Kugeln @ras-slava
- Midjourney
Rebecca van der Linde, M.A. Germanistik und Kulturanthropologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Resilienz Akademie. Als Resilienz-Trainerin und Resilienz-Coach betreut sie den Blog der Resilienz Akademie und unterstützt in der konzeptionellen Entwicklung. Zudem agiert als SEO-Managerin für die Website. Ihr Schwerpunkt liegt auf der digitalen Präsenz der Themen rund um individuelle und organisationale Resilienz.
Sebastian Mauritz, M.A. Systemische Beratung, ist einer der führenden Resilienzexperten Deutschlands. Er ist 5-facher Fachbuchautor, Keynote-Speaker, Resilienz-Lehrtrainer, Systemischer Coach, war und ist Vorstand in vielen Coach- und Trainer-Verbänden und Unternehmer. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich individuelle Resilienz und Prosilienz®, resilienter Führung und Teamresilienz. Er ist Initiator des jährlichen Resilienz-Online-Kongresses, in dessen Rahmen er sich bereits mit über 200 weiteren Resilienzexpert:innen aus verschiedenen Disziplinen ausgetauscht hat (www.Resilienz-Kongress.de).